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Expertengespräch
Rechtsanwältin Tanja Unger über das Recht auf selbstbestimmtes Sterben.
Frau Unger, Sie haben Ärzte vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten. Worum ging es ihnen?
Geklagt hatten engagierte Palliativmediziner, die ihre Patienten bis zum Schluss bestmöglich betreuen wollen. Sie wollten sich nicht mittels einer Strafnorm – dem Paragrafen 217 Strafgesetzbuch – verbieten lassen, bei einem schwerstkranken Patienten als letzte Option auch professionelle Hilfe bei dessen Selbsttötung zu leisten. Außerdem hatte die Strafnorm das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis belastet. Offene Gespräche über Suizidgedanken ihrer Patienten sollten wieder gefahrlos möglich sein. Nur wenn der Patient sich dem Arzt anvertraut, kann dieser ihm Alternativen aufzeigen und ihn so im besten Fall von seinem Suizidentschluss abbringen.
Unter welchen Voraussetzungen ist Beihilfe zum Suizid straffrei?
Eine Beihilfe zum Suizid ist nur straffrei, wenn der Betroffene den Entschluss frei verantwortlich, wohlerwogen und ernstlich gefasst hat. Nur dann handelt es sich um den vom Grundgesetz geschützten Ausdruck seines Selbstbestimmungsrechts. „Wohlerwogen“ bedeutet, dass der Suizidwillige vorab über soziale und medizinische Alternativen wie Onkologie, Psychotherapie oder Palliativmedizin informiert wurde. Der Suizidwillige muss frei von krankhafter psychischer Störung und ohne Druck von Dritten den Entschluss gefasst haben. Bei Nichtvorliegen der Kriterien droht dem Helfer eine Bestrafung wegen fahrlässiger oder vorsätzlicher Tötung bis zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.
Kritiker argumentieren, eine geregelte Suizidhilfe könne alte und kranke Menschen unter Druck setzen. Wie sehen Sie das?
Die Gefahr sehe ich nicht bei ärztlicher Suizidassistenz. Ein Arzt ist sich stets seiner hohen Verantwortung für das Leben seines Patienten bewusst und wird streng nach seinem Gewissen prüfen, ob er dem schwer erkrankten Patienten seinen Wunsch nach Suizidhilfe erfüllen kann. Die Entscheidung für ein selbstbestimmtes Sterben unter Zuhilfenahme Dritter sollte kein gesellschaftliches Tabu sein. Dieses Recht darf durch ein strafrechtliches Verbot nicht unmöglich gemacht werden, „nur“ um nicht den Anschein einer Normalität aufkommen zu lassen. Offene Gespräche über die Ängste und Sorgen der Betroffenen und gegebenenfalls die Zusage, ihnen im Ernstfall bei der Umsetzung der Entscheidung zur Seite zu stehen – wenn sie für sich wirklich keinen anderen Weg mehr sehen –, ist der beste Weg, Druck zu verhindern und übereilte Entscheidungen zu vermeiden.
Was bedeutet das Urteil für Ärzte und Pflegepersonal in Heimen?
Zunächst bedeutet es Rechtssicherheit für Ärzte und Pflegeeinrichtungen mit ihrem Personal. Eine Unterstützung eines frei verantwortlichen Suizids ist straffrei. Dabei ist es irrelevant, ob der Suizid aktiv, etwa durch die Einnahme eines bereitgestellten Medikaments, oder passiv, durch den – gerade in Heimen und Hospizen immer wieder vorkommenden – freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken geschehen soll. Es ist jedoch wichtig, dass nach wie vor niemand, auch kein Arzt oder Pfleger verpflichtet ist, Suizidhilfe zu leisten. Es gibt also keinen Rechtsanspruch auf Suizidhilfe, weder gegenüber dem Staat noch gegenüber Dritten.
Tanja Unger, Fachanwältin für Medizinrecht aus München, hat mehrere Ärzte vor dem Bundes-verfassungsgericht vertreten.
„Das Urteil bedeutet mehr Rechtssicherheit für Ärzte und Pflegepersonal“
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Expertengespräch
Rechtsanwalt Wolfgang Putz erklärt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.
Herr Putz, Sie haben drei Grundsatzurteile beim Bundesgerichtshof (BGH) zur Patientenverfügung erstritten (siehe Seite 16). In allen drei Fällen lagen die früher – und
auch heute noch – weit verbreiteten Textvorlagen der evangelischen Kirche zugrunde. Warum kam es zum Streit?
In allen drei Fällen stritten Familienangehörige um die Frage, ob die Fallkonstellationen von der Formulierung der Patientenverfügung erfasst wurden. Es wurde in allen Fällen ergänzend eine Beweisaufnahme durchgeführt, um den Willen der Betroffenen zu ermitteln.
War die Formulierung nicht klar?
Tatsächlich genügten die ursprünglich gut gemeinten Texte der evangelischen Kirche für Patientenverfügungen in wesentlichen Punkten nicht den rechtlichen Anforderungen. Es musste ermittelt werden, was der wirkliche Wille der Betroffenen war, als sie unterzeichnet wurden. Darüber gab es verschiedene Darstellungen. Die Richter mussten würdigen, ob sich
ein eindeutiger Wille ermitteln ließ.
Warum halfen die Patientenverfügungen nicht weiter?
Zum Beispiel war lediglich formuliert, dass „lebensverlängernde Maßnahmen“ unterbleiben, „wenn medizinisch eindeutig festgestellt ist, dass zum Beispiel keine Aussicht auf Wiedererlangung des Bewusstseins besteht oder ein schwerer Dauerschaden des Gehirns zurückbleibt“. Das ist eine Aneinanderreihung von untauglichen Formulierungen. Den Begriff „Lebensverlängernde Maßnahmen“ ließ der BGH nicht ausreichen, sofern tatsächlich nur diese Formulierung in der Patientenverfügung steht. Wenn aber ergänzende Darlegungen folgen, kann diese Formulierung ausreichend sein.
Was war zum Beispiel noch falsch?
Die Richter haben dargelegt, dass die Maximalformulierung hinsichtlich der Wiedererlangung des Bewusstseins, das „medizinisch eindeutig festgestellt ist …“, eine extreme Anforderung darstellt, die fast nie vom medizinischen Sachverständigen bejaht werden dürfte. Und es ist medizinisch nicht definiert, was „ein schwerer Dauerschaden des Gehirns“ ist. Es gibt auch heute noch in vielen Patientenverfügungen ähnliche, rechtlich untaugliche Formulierungen.
Wie gehen Laien ohne medizinische Kenntnisse vor, wenn sie eine Patientenverfügung erstellen?
Ich empfehle dringend: keine eigenen Formulierungsversuche. Es gibt inzwischen sehr gute Musterformulare, die den neuesten Anforderungen des BGH entsprechen. Im Fall einer
schweren Erkrankung sollten Patienten gemeinsam mit dem Arzt eine konkrete gesundheitliche Vorausplanung angehen und Behandlungswünsche in einer speziellen Patientenverfügung festlegen.
Was ist noch wichtig?
Es muss eine Vertrauensperson in einer Vorsorgevollmacht bestimmt sein, die eine Patientenverfügung durchsetzt. Manche Menschen sind aber nicht in der Lage, die emotionale Last und Verantwortung für den endgültigen Tod eines nahe stehenden Menschen zu tragen. Deshalb sollte die Wahl des Bevollmächtigten gut überlegt sein.
Wolfgang Putz ist Rechtsanwalt in München, Lehrbeauftragter an der Ludwig-Maximilians-Universität und Autor des Buches „Patientenrechte am Lebensende“.
„Die Wahl des Bevollmächtigten sollte gut überlegt sein.“
Das „Sterbehilfeurteil“ des Bundesverfassungsgerichts – § 217 StGB: guter Zweck, falscher Weg
Das Recht auf ein selbst bestimmtes Sterben
Das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für verfassungswidrig erklärt. Die Autorin des folgenden Fachartikels vertrat gemeinsam mit Rechtsanwalt Wolfgang Putz die Verfassungsbeschwerden dreier Ärzte und fasst die zentralen Aussagen des Gerichts mit Blick auf die Praxis zusammen.
Von Tanja Unger
Karlsruhe // In seinem historischen Urteil hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für verfassungswidrig erklärt und die Strafnorm mit sofortiger Wirkung aufgehoben. Aber das Gericht hat noch viel mehr getan, um den Schutz der Würde und des Selbstbestimmungsrechts in richtige Bahnen zu lenken. Leider ist selten ein Urteil in der Öffentlichkeit derart missverstanden und zu Unrecht kritisiert worden.
1. Die Ausgangslage: Gegen das Sterbehilfeverbot des § 217 StGB klagten unter anderem Sterbehilfevereine, Schwerkranke, die ihr Leben mit Hilfe eines solchen Vereins beenden möchten, und Ärzte, die sich in der ambulanten oder stationären Patientenversorgung Strafbarkeitsrisiken ausgesetzt sahen. Mit ihren Verfassungsbeschwerden rügten sie die Verletzung ihrer jeweiligen Grundrechte und bekamen Recht.
2. Wesentliche Erwägungen des Urteils: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 mit Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht ist nicht nur ein Abwehrrecht, z.B. gegen lebenserhaltende Maßnahmen, sondern schließt auch die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und, soweit angeboten, in Anspruch zu nehmen.
//Eine Verpflichtung zur Suizidhilfe gibt es auch künftig nicht.
Nur unmöglich machen darf sie der Staat nicht.//
Rechtsanwältin Tanja Unger
„Die in Wahrnehmung dieses Rechts getroffene Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren“. Die Entscheidung entzieht sich einer staatlichen Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben gilt uneingeschränkt für alle Lebenssituationen und ist nicht auf fremddefinierte Situationen wie schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens-und Krankheitsphasen beschränkt. Es gilt also nichts anderes als bei Patientenverfügungen, bei denen das Patientenverfügungsgesetz in § 1901a Abs. 3 BGB gewährleistet, dass jeder in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts Behandlungsverbote ohne Rücksicht auf Art oder Stadium einer Erkrankung festlegen kann. Das Bundesverwaltungsgericht hatte 2017 den Zugang zu suizidtauglichen Betäubungsmitteln dagegen von derartigen Kriterien abhängig gemacht. Dieses Urteil und das Betäubungsmittelrecht stehen dem -nächst auf dem Prüfstand des Verfassungsgerichts. Das Verbot des § 217 StGB stellt einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen dar. Deshalb ist es verfassungswidrig und musste für nichtig erklärt werden: Zwar, so das Gericht, verfolgte der Gesetzgeber mit § 217 StGB den legitimen Zweck, die Selbstbestimmung des Einzelnen über sein Leben und hierdurch das Leben als solches zu schützen. Die Einschätzung des Gesetzgebers, dass die bisherige Praxis geschäftsmäßiger Suizidhilfe nicht geeignet war, die Selbstbestimmung in jedem Fall zu wahren, sei vertretbar. Es erkennt auch zu, dass die meisten suizidwilligen Menschen Lebensschutz und nicht Unterstützung beim Suizid brauchen, weil ihr Wunsch nicht auf einer vom Grundgesetz geschützten freiverantwortlichen, wohlerwogenen und ernstlichen Entscheidung beruht. Auch unter Würdigung all dieser Umstände ist die von der Vorschrift ausgehende Einschränkung der Grundrechte jedoch zu weitgehend. Der Einsatz des Strafrechts zum Schutz der autonomen Entscheidung des Einzelnen über die Beendigung seines Lebens findet seine Grenze dort, wo die freie Entscheidung nicht mehr geschützt, sondern unmöglich gemacht wird. § 217 StGB richtete sich zwar nur gegen geschäftsmäßiges Handeln. Doch die verbleibenden Optionen bieten laut Urteil nur eine theoretische, nicht aber tatsächliche Aussicht auf Selbstbestimmung am Lebensende, das Grundrecht werde faktisch weitgehend entleert. Genau das verbietet aber die Verfassung. Der Zweck heiligt nicht alle Mittel, schon gar keine verfassungswidrigen! Schon in der mündlichen Verhandlung im April 2019 stellten die Richter daher an den Gesetzgeber gerichtet klar: „Sie haben Grundrechte nicht zu dulden, sondern zu gewähren!“ Der Gesetzgeber darf und soll Suizidprävention betreiben und krankheitsbedingten Selbsttötungswünschen durch Ausbau palliativmedizinischer Angebote entgegenwirken. Dem Einzelnen muss aber die Freiheit verbleiben, auf die Erhaltung des Lebens zielende Angebote auszuschlagen und seine freie Entscheidung, das eigene Leben mit Hilfe Dritter zu beenden, im Inland umzusetzen. Mit dem Recht auf Selbsttötung korrespondiert daher auch ein entsprechend weitreichender grundrechtlicher Schutz des Handelns von Suizidassistenten. Ohne geschäftsmäßige Angebote der Suizidhilfe, so das Gericht, sei der Einzelne maßgeblich auf die individuelle Bereitschaft von Ärzten angewiesen, an einer Selbsttötung assistierend mitzuwirken. Kein Arzt – dies wird mehrfach betont – ist hierzu verpflichtet! Aktuell steht in Teilen Deutschlands der Bereitschaft von Ärzten, freiverantwortlichen und wohlerwogenen Sterbewilligen, Suizidhilfe zu leisten, jedoch auch noch das Berufsrecht entgegen. Es gehe aber nicht an, so das BVerfG, dass Menschen, die von ihrem Grundrecht auf Suizid Gebrauch machen wollen, erst einmal Ärzte finden müssen, die mutig genug sind, sich unter Berufung auf ihre eigene, verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit über dieses berufsrechtliche Verbot hinwegzusetzen. Klarer hätte das BVerfG den Handlungsauftrag an die betreffenden Landesärztekammern nicht formulieren können. Das Standesrecht hat die Vorgaben des Verfassungsrechts umzusetzen.
3. Resümee und Blick auf die Praxis:
Zum Schutz der Selbstbestimmung über das eigene Leben steht dem Gesetzgeber auch nach dem Urteil in Bezug auf organisierte Suizidhilfe ein breites Spektrum an Möglichkeiten offen. Eine Verpflichtung zur Suizidhilfe gibt es auch künftig nicht. Nur unmöglich machen darf sie der Staat nicht. Also: alles auf Anfang! Die Politik muss nun neue, verfassungskonforme Wege suchen, um zu verhindern, dass unseriöse, leicht fertige Suizidhilfeangebote das Leben von schwachen, hilfebedürftigen Menschen in elementaren Entscheidungskonflikten gefährden. Weiterhin ist jeder Suizidwunsch ernst zu nehmen. Es muss offen darüber gesprochen werden! Ist der Wunsch freiverantwortlich, wohlerwogen und nachhaltig und damit Ausdruck des grundrechtlichen Selbstbestimmungsrechts, darf – wie vor Einführung des § 217 StGB – Unterstützung bei der Umsetzung geleistet oder vermittelt werden. Ein freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit darf genauso begleitet werden wie ein Suizid durch aktives Handeln gegen das eigene Leben.
Die Autorin ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Medizinrecht in der Kanzlei für Medizinrecht Putz-Sessel-Steldinger in München: putz-medizinrecht.de
Warum man eine Patientenverfügung erstellen sollte und was es dabei zu beachten gilt
Vorsorgen ist wichtiger denn je
Welche Behandlung will ich, welche nicht: Gerade in Corona-Zeiten sollte
man sich ärztlichen Rat holen und seinen Willen dokumentieren
Von John Schneider
Die Berichte über schwer verlaufende Corona-Fälle führen uns vor Augen, wie wichtig es ist, rechtliche Vorsorge zu treffen. Wer künstlich beatmet wird, kann häufig über einen längeren Zeitraum keine Entscheidungen in rechtlichen Angelegenheiten treffen.“ Das sagt Bayerns Justizminister Georg Eisenreich (CSU).
AZ-INTERVIEW mit Tanja Unger
Die 34- Jährige ist Medizinrechtlerin und Co-Autorin der Vorsorgebroschüre.
Unter Federführung seines Hauses hat der C.H. Beck Verlag eine Vorsorgebroschüre (5,90 Euro) herausgebracht, die die wichtigsten Fragen rund um Vorsorgevollmachtund Patientenverfügung beantwortet. Eine wichtige Hilfestellung – gerade während einer Pandemie.
Der Minister macht in diesem Zusammenhang auf eine verbreitete Fehleinschätzung aufmerksam: „Was manchmal übersehen wird: Weder der Ehepartner noch die Kinder können Sie im Ernstfall automatisch vertreten. Fallen rechtliche Entscheidungen an, muss das Gericht einen Betreuer bestellen. Eine Vorsorgevollmacht kann dies verhindern und ist für Sie und
Ihre Angehörigen von unschätzbarem Wert.
Die AZ hat der Medizinrechtlerin und Co-Autorin der Broschüre, Tanja Unger (34) von der Kanzlei Putz-Sessel-Steldinger Fragen rund um Patientenverfügung und Pandemie gestellt.
AZ: Frau Unger, werden in Pandemiezeiten eine Patientenverfügung sowie eine Vorsorgevollmacht besonders wichtig?
TANJA UNGER: Eine Patientenverfügung ist Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen. Sie lebt von ihren Verboten. Man verbietet für gewisse Situationen, zum Beispiel für ein dauerhaftes Koma, lebensverlängernde Maßnahmen, um so nicht langfristig in diesem Zustand verbleiben zu müssen. Ganz wichtig ist aber, dass die Patientenverfügung erst und immer nur dann relevant wird, wenn der Patient sich aktuell nicht mehr selbst äußern kann. So kann in der Regel auch ein mit Corona infizierter Patient, der ins Krankenhaus gebracht wird, mit den Ärzten besprechen, welche Behandlungen er möchte und welche nicht. Sollte aber jemand, zum Beispiel infolge eines Schlaganfalls, nicht äußerungsfähig sein und infiziert sich zusätzlich mit Corona, ist es gut, wenn er im Voraus verfügt hat und zusätzlich eine Vertrauensperson für den Gesundheitsbereich bevollmächtigt hat, die seinen Willen transportieren kann. Auch für die Ärzte ist es in diesen oft hektischen Zeiten eine große Hilfe, wenn sie so einen Ansprechpartner und einen klar fixierten Willen des Patienten haben. So beugt man Fehlentscheidungen zulasten des Patienten vor.
Ist jetzt etwas besonders wichtig?
Mit einer Standardpatientenverfügung, wie der des bayerischen Justizministeriums, muss man sich keine Sorgen machen, dass man bei einer Coronainfektion nicht behandelt wird, wenn man sich zwischenzeitlich bei Zustandsverschlechterung nicht mehr selbst äußern kann, es aber noch gute Genesungschancen gibt. Solange die Coronainfektion keinen derart schlechten Verlauf genommen hat, dass der Patient bereits unumkehrbar komatös ist oder im Sterben liegt, ist diese nicht einschlägig und die Ärzte führen alle indizierten Maßnahmen durch, um den Betroffenen zu retten.
Was tun, wenn man im Fall der Fälle gar nicht mehr behandelt werden will?
Sollte man, zum Beispiel, weil das Ende eines langen zufriedenen Lebens herbeigesehnt wird, den Wunsch haben, auch unter Vergabe möglicher Genesungschancen im Falle einer
Corona-Erkrankung keine Beatmung zu bekommen, sollte man deshalb einen gezielten Zusatz zu seiner normalen Patientenverfügung verfassen. In diesem verbietet man ausdrücklich invasive Beatmung und verlangt die palliative Linderung etwaiger Symptome. Eine entsprechende Formulierungshilfe wurde von unserer Kanzlei entworfen und wird kostenlos an Anfragende herausgegeben.
Ist gerade jetzt ein guter Zeitpunkt, um Vorsorge zu treffen?
Da nicht auszuschließen ist, dass eine zweite stärkere Coronawelle auf uns zukommt, sollte sich jeder, insbesondere wer zur Risikogruppe gehört, zu dieser Thematik Gedanken
machen und gegebenenfalls eine entsprechende Regelung treffen. Hierdurch sichert man, dass sein Wille zur Geltung kommt.
AZ-VERLOSUNG: 50 Patientenverfügungen
Die AZ verlost 50 Broschüren mit Patientenverfügung im Wert von je 5,90 Euro. Rufen Sie bis Freitag 12 Uhr, unsere Hotline unter ☎ 01378 420 166 (50 Cent pro Anruf, Mobilfunkhöher) an oder schreiben Sie uns eine E-Mail an gewinnen@az-muenchen.de mit dem Stichwort „Patientenverfügung“. Die Gewinner werden telefonisch benachrichtigt. Ihre personenbezogenen Daten werden ausschließlich für die Abwicklung des Gewinnspiels verwendet und nicht an Dritte weitergegeben. Nach Ermittlung der Gewinner und deren Benachrichtigung werden die Daten gelöscht. Die AZ verlost die Broschüre.
Legen Sie fest, wie Sie behandelt werden wollen: Mit dem Erstellen einer möglichst konkreten Patientenverfügung zeigen Sie Ihren Willen an.
So viel vorweg: Es lohnt sich nach Ansicht der Experten auf jeden Fall, angesichts der Pandemie eine Patientenverfügung zu verfassen oder die bereits erstellte Verfügung zu
überprüfen. Bei Zweifeln holen Sie sich am besten medizinischen Rat.
Im Rahmen einer Patientenverfügung kann man sehr konkret festlegen, welche Behandlung erwünscht ist und welche nicht. Die künstliche Beatmung – wie sie bei schweren Covid-19-Verläufen oft angewandt worden ist – gehört zu den oft abgelehnten lebensverlängernden medizinischen Maßnahmen. Und doch kommt die Patientenverfügung hier erst einmal nicht zum Zuge. Denn die setzt voraus, dass der Patient seinen Willen nicht mehr selber äußern kann. Zudem ist die Erkrankung heilbar. Die Maßgaben in der Patientenverfügung sind aber für den Fall einer unheilbaren Krankheit gedacht. Im Falle der Corona-Erkrankung käme die Patientenverfügung also erst zur Anwendung, wenn die Ärzte im Verlauf keine Heilungschance mehr sehen oder der Sterbeprozess begonnen hat, der Patient sich aber nicht mehr äußern und in eine Behandlung nicht mehr einwilligen kann.
Der BGH hat festgelegt, dass sich aus der Patientenverfügung eine konkrete Behandlungsentscheidung des Patienten ableiten lassen muss. Dazu müssen bestimmte ärztliche Maßnahmen genannt Krankheiten oder Behandlungssituationen genau benannt werden. Es gilt der Grundsatz: Je konkreter die Krankheits-Situation in der Patientenverfügung beschrieben wird, desto einfacher kann sie umgesetzt werden. Das kann umgekehrt auch für den Fall gelten, dass man bei einer Covid-19-Erkrankung ausdrücklich die Behandlung mit Beatmungsgeräten wünscht. Auch das lässt sich in der Patientenverfügung festlegen. Die DGHS (Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben) macht Formulierungsvorschläge für eine aktuelle Ergänzung der Patientenverfügung für den Fall einer schweren Coronavirus-Erkrankung (Covid 19). Ein Beispiel: Wenn man eine künstliche Beatmung trotz Heilungschancen ablehnt, könnte man das laut DGHS so formulieren: „Ich verbiete grundsätzlich jegliche Art der künstlichen Beatmung (nichtinvasiv wie auch invasiv). Parallel verlange ich eine optimale palliative Behandlung, die mir ein sanftes Sterben mit friedlichem Einschlafen ohne Erstickungsgefühle ermöglichen soll.“ In jedem Fall das Datum und die Unterschrift nicht vergessen. Und auch im Falle der DGHS-Vorschläge gilt, dass man bei Zweifeln medizinischen Rat einholen sollte.
Ebenfalls wichtig: die Angehörigen oder eine andere Vertrauensperson mit einer Vorsorgevollmacht beziehungsweise Betreuungsverfügung auszustatten. Die können dann den Willen des Patienten artikulieren, wenn eine Patientenverfügung nicht vorliegt oder die konkrete Situation nicht umfasst.
Debatte Während die Bevölkerung mehrheitlich für ein selbstbestimmtes Sterben plädiert, stellt der Staat Hilfeleistung unter Strafe. Nun entscheidet das Bundesverfassungsgericht
Seit Ende 2015 gibt es im Strafgesetzbuch einen Paragrafen, der sterbewillige Patienten, ihre Ärzte und sogar das Pflegepersonal auf Palliativstationen und in Hospizen in Nöte bringt.
»Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft« lautet § 217 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs.
Sie haben es gemerkt: Es geht um das heikle Thema, das der Volksmund gern fälschlicherweise unter dem Begriff »Sterbehilfe« einordnet. In Fachkreisen wird eher von Suizid- oder Freitodbegleitung gesprochen, die sich auf Beratung, Hilfe bei der Organisation des Vorhabens, zum Beispiel durch das Verschaffen einer tödlichen Dosis, und auf die passive Überwachung des Akts der Selbsttötung beschränkt.
Ihr ausschließliches Ziel ist es, den Sterbewilligen in der Umsetzung ihres Vorhabens Sicherheit zu bieten – jedoch ohne dabei einzugreifen. Dass § 217 StGB nun seit fast vier Jahren solchen früher straflosen Unterstützungsleistungen einen Riegel vorschiebt, greift allerdings auch tief in die Persönlichkeitsrechte der sterbewilligen Patienten ein, denn ihnen bleiben seither nur riskante oder auch sehr aufwendige Auswege, wenn sie ihr Leben beenden wollen.
Karlsruhe muss entscheiden
Das Verbot der professionellen Suizidbegleitung resultierte aus der Sorge, dass diese zu einem dauerpräsenten »Dienstleistungsangebot der gesundheitlichen Versorgung« werden könnte, mit dem auch gesunde, ältere Menschen »verleitet oder gar direkt oder indirekt gedrängt« werden könnten, ihrem Leben ein Ende zu setzen (Bundestags-Drucksache 18/5373). Die Gesetzgebungsinitiative richtete sich gegen die sogenannten Sterbehilfevereine, die ihren Mitgliedern bei Bedarf den Kontakt zu Ärzten verschafften, die bereit waren, eine tödliche Dosis eines Medikaments zu verordnen und nötigenfalls Hilfestellung bei der Einnahme zu leisten.
Unklarer Rahmen Die ursprüngliche Absicht, den im Einzelfall aus selbstlosen Motiven gegenüber seinen Patienten handelnden Hausarzt von der Regelung auszunehmen, ist jedoch nicht gelungen: Durch das Verbot des »geschäftsmäßigen« Förderns, was in juristischem Sinn bereits gegeben wäre, wenn ein »einmaliges« Fördern ein zweites Mal vorkommen könnte, sind auch die Hausärzte meist nicht mehr bereit, sich dem Risiko der Strafbarkeit auszusetzen, indem sie ihren Patienten Lösungen aufzeigen oder gar die Medikamente dazu verschaffen.
Recht auf Selbstmord Weil das Verbot aber in seiner mittelbaren Auswirkung letztlich in die per Artikel 2 Grundgesetz verbrieften Persönlichkeitsrechte der sterbewilligen Patienten eingreift, indem es das Recht auf einen schmerzlosen Suizid abschneidet, entscheidet der Zweite Senat das Bundesverfassungsgerichts derzeit über mehrere Verfassungsbeschwer-den, die von Sterbehilfeorganisationen, Ärzten und betroffenen Patienten eingereicht wurden. Die zweitägige Verhandlung fand bereits Mitte April statt, das Urteil darüber, ob
§217 verfassungsgemäß ist, wird für Ende 2019 erwartet.
Änderungen wahrscheinlich
In Expertenkreisen sorgten die »Schwachstellen« in § 217 StGB bereits von Anfang an für Diskussionen, denn hinsichtlich der Rechte der Patienten gilt er als zu restriktiv. »Die Brisanz des Paragrafen 217 liegt aber nicht nur in der Missachtung dieser Persönlichkeitsrechte, sondern auch darin, dass er Hausärzte und Palliativmediziner schon in ihrer pflichtgemäßen Arbeit nahezu kriminalisiert«, erklärt Tanja Unger, Fachanwältin für Medizinrecht in der Münchner Kanzlei Putz Sessel Steldinger (www.putz- medizinrecht.de). So stehe der Begriff des strafbaren Förderns der Selbsttötung schon abstrakt im Raum, wenn Ärzte nur aufklären. »Wenn der Arzt einem schwer kranken Patienten, der vielleicht sogar schon einmal über Suizid gesprochen hat, ein Mittel gibt, das dieser bei Bedarf nehmen kann, wenn die Schmerzen zu stark werden, dann muss er ihn zugleich auch darüber aufklären, ab welcher Dosis dieses Mittel tödlich wirken würde. Dieser unverzichtbare Hinweis kann schon als ein verbotenes Fördern aufgefasst werden«, erklärt Anwältin Unger.
Zynische Debatte Selbst beim Sterbefasten, das eine eindeutige Suizidhandlung darstellt, begebe sich das medizinische Personal auf den schmalen Grad des Förderns, wenn es z.B. die Krämpfe lindere, die beim völligen Verzicht auf Flüssigkeit und Nahrung oft auftreten. »Die Linderung solcher Symptome ist der Kern der Palliativversorgung. Dies unter Strafe zu stellen, weil das Lindern den Patienten davon abhalten könnte, diesen Versuch der Selbsttötung abzubrechen, ist schon sehr zynisch«, merkt Tanja Unger an. Hinsichtlich des anstehenden Urteils aus Karlsruhe ist sie vorsichtig optimistisch. »Ich habe während der zwei Verhandlungstage den Eindruck gewonnen, dass der Senat erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der derzeitigen Fassung des §217 StGB hat.« Der Paragraf wird in dieser Form wahrscheinlich nicht bestehen bleiben; der Ausgang der Verfahren insgesamt ist aber offen. »Spannend ist die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht nicht möglicherweise sogar Vorgaben für eine geregelte Verfahrensweise bei der Freitodassistenz entwickelt und damit einen legitimen Weg aufzeigt. Anschließend wären dann noch weitere Fragen zu klären; zum Beispiel fordern Psychologen und Psychiater verbindliche Kriterien zur Beurteilung der Freiverantwortlichkeit«, erklärt Rechtsanwältin Unger.
Sterbetourismus geht weiter
Eine schnelle Lösung zugunsten der Patienten ist aber selbst bei einem »positiven« Ausgang im Sinne der Verfassungsbeschwerden nicht in Sicht. Dann wäre zunächst der Gesetzgeber gefordert, die Vorgaben aus Karlsruhe umzusetzen, was durchaus neue, aus Patientensicht zeitraubende Debatten entfachen könnte. So wird es auf absehbare Zeit dabei bleiben, dass deutschen Patienten mit Sterbewunsch erst einmal nur eine Reise in die Schweiz als Ausweg bleibt.
Info:
Urteil 2017 entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass der Erwerb eines Betäubungsmittels zur Selbsttötung mit dem Betäubungsmittelgesetz ausnahmsweise vereinbar ist, wenn sich der suizidwillige Erwerber wegen einer schweren und unheilbaren Erkrankung in einer extremen Notlage befindet.
Voraussetzungen Diese Notlage ist laut Urteil dann gegeben, wenn die Erkrankung mit gravierenden körperlichen
Leiden, insbesondere starken Schmerzen verbunden ist, die zu einem unerträglichen Leidensdruck führen und nicht ausreichend gelindert werden können. Darüber hinaus sei es erforderlich, dass der Betroffene entscheidungsfähig ist und sich frei und ernsthaft entschieden hat, sein Leben beenden zu wollen. Als drittes Kriterium kommt hinzu, dass eine andere zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbe-wunschs nicht zur Verfügung steht (BVerwG, Az. 3 C 19.15).
Hintergrund Die mittlerweile verstorbene Ehefrau des Klägers hatte 2005 beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) um eine Ausnahmegenehmigung gebeten, eine tödliche Dosis Pentobarbital kaufen zu können. Der damalige ablehnende Bescheid der Behörde wurde durch das Urteil als rechtswidrig eingestuft, weil das Verbot einer Erwerbserlaubnis in das allgemeine Persönlichkeitsrecht jener schwer und unheilbar Erkrankten eingreift, die ihrem Leiden selbstbestimmt ein Ende setzen wollen.
Gegenkurs Die Verwaltung ignoriert dieses Urteil; laut bestätigten BfArM-Interna aufgrund einer Weisung aus dem Bundesgesundheitsministerium, nach welcher der Staat nicht zum Suizidhelfer werden dürfe. Offiziell werden zu jedem Antrag weiter Einzelfallprüfungen durchgeführt, die jedoch bislang allesamt zu abschlägigen Bescheiden führen.
Freie Entscheidung Patienten haben das Recht, die Zustimmung zu medizinischen Maßnahmen zu verweigern. Die Ärzte dürfen daher nichts gegen den Willen eines entscheidungsfähigen Patienten veranlassen – dies wäre als Körper-verletzung strafbar.
Patientenverfügung Entsprechend gilt seit 2009, dass jede einsichtsfähige Person eine Patientenverfügung erstellen kann, mit der sie für den Fall der Nicht-Einwilligungsfähigkeit situationsgebundene Festlegungen trifft, welche Behandlungen dann unterbleiben sollen oder gewünscht sind. Dies betrifft insbesondere das Verbot lebens-
erhaltender Maßnahmen wie maschinelle Be-atmung oder Sonden-ernährung, deren Unterbleiben den Sterbe-prozess einleiten oder verkürzen kann.
Bindungswirkung Die in der Patientenverfügung getroffenen Festlegungen sind bindend; die Betreuer haben dem Patientenwillen »Ausdruck und Geltung zu verschaffen« (§ 1901a BGB). Ein so veranlasster Behandlungsabbruch (»passive Sterbehilfe«) bleibt für die Ärzte straflos. Eine gerichtliche Genehmigung des Behandlungsabbruchs ist bei einer hinreichend klar formulierten Patientenverfügung nicht erforderlich (BGH Az. XII ZB 107/18).
Hilfe beim Suizid Die Unterstützung beim Selbstmord ist straflos; ebenso wie der Akt der Selbst-tötung an sich. Wird die Unterstützung allerdings »geschäftsmäßig« geboten, ist dies strafbar (§ 217 Abs. 1. StGB). Angehörige und nahestehende Personen werden davon ausgenommen, auch wenn sie geschäftsmäßiges Handeln unterstützen, indem sie Sterbewillige in die Schweiz fahren (s.u.).
Wirkung Aufgrund der Einführung von § 217 hat der Verein »Sterbehilfe Deutschland« die Suizidassistenz eingestellt; bleibt aber als Verein bestehen. Der Verein hat Verfassungsbeschwerde gegen § 217 eingelegt.
Möglichkeiten In Deutschland bleibt Patienten nur die Möglichkeit des Behandlungsabbruchs mit palliativer, also schmerz-lindernder Begleitung.
Sterbetourismus In der Schweiz ist die Suizidbegleitung legal; die Vereine Dignitas, Exit und Life Circle bieten die Sterbebegleitung dort auch für ausländische Mitglieder an, in deren Ländern ein Verbot besteht. Die Gesamtkosten betragen im Einzelfall etwa einen fünfstelligen Eurobetrag.
Kaum eine Ernährungsmethode ist mit so vielen Diskussionen behaftet wie die Sondenernährung – zumal sie meist erst im letzten Lebensstadium eines Bewohners eingesetzt wird. Für Pflegende stellen sich hier eine ganze Reihe von Fragen, die nicht nur ethische, sondern auch juristische Bedeutung haben. Der Münchner Rechtsanwalt Wolfgang Putz, Autor unter anderem des Buches „Sterben dürfen“ klärt für VERPFLEGEN hier die wichtigsten von ihnen
Ernährung durch eine Sonde stellt für jeden Bewohner einer Senioreneinrichtung einen tiefen Einschnitt dar. Es gibt kaum eine andere so riesige Konsequenz ins Leben eines Pflegebedürftigen als eine Sonde zur Ernährung. Das aus gleich mehreren Gründen.
- Erstens fällt durch das Setzen der Sonde en des Regel eine sehr wichtige Komponente des Lebens im Alter, nämlich der soziale Kontakt beim Essen weg.
- Zweitens fällt alles Genussvolle weg, die Lebenssituation verändert sich fundamental. Auch soziale Interaktionen wie das Essen Anreichen, ein liebevolles Kümmern, Aufmerksamkeit, Zuwendung entfällt.
- Drittens bedeutet die Sonde den Komplettverlust des Genusses von Essen und Trinken: „Meinen Vater ohne Essen und Trinken können sie komplett vergessen“ – diese Wertung einer Angehörigen muss man subjektiv sehr ernst nehmen, weil sie aus Erfahrung darstellt, wie der Patient einen solchen Einschnitt gewertet hatte
Grundsätzlich eine medizinische Entscheidung
Wer trifft nun in der Praxis die Entscheidung, ob eine PEG-Sonde gelegt wird oder nicht? Die künstliche Ernährung über jegliche Art von Magensonde ist immer eine medizinische Behandlung – damit entscheidet letztendlich der Arzt. Jedoch geht auch das nicht willkürlich. Zuerst muss der Arzt die Kriterien der medizinischen Indikation bejahen, die sogenannte Indikationsstellung Ist die PEG-Sonde nicht indiziert, darf er sie nicht setzen. Entscheidend ist als zweites, den Patientenwillen zu ermitteln. Wenn der Patientenwille der an sich indizierten Sonde entgegensteht, darf sie ebenfalls nicht gesetzt werden. Dennoch behält der Arzt bei dieser Entscheidung eine wichtige Rolle. Erst muss er die Indikation stellen. Sodann hat er eine besondere Rolle als Berater gegenüber den Entscheidungsträgern. Er muss sie über alle Vor- und Nachteile, aber auch über alle Punkte beraten: z.B. über Versorgungsprobleme, Erbrechen usw. Es gibt eine Menge Aufklärungspflichten, die aber in der Regel nicht eingehalten werden. Wenn der Patient zu einer solchen Entscheidung nicht mehr selbst in der Lage ist, darf oder muss ein Angehöriger stellvertretend eine Entscheidung treffen.
Der Angehörige muss richtig legitimiert sein
Dieser Angehörige aber muss dazu legitimiert sein. Denn nur der gesetzlich legitimierte Vertreter des Patienten – ausgewiesen durch eine Vollmacht oder als vom Betreuungsgericht eingesetzter rechtlicher Betreuer – darf hier entscheiden. Ein solchermaßen legitimierter Vertreter kann sagen, ob die angedachte Entscheidung dem Willen des Patienten entspricht oder nicht. Diesem Willen muss er Ausdruck und Geltung verschaffen. Das heißt er muss ihn mit allen rechtlich zur Verfügung stehenden Mitteln durchsetzen. Bei dieser Entscheidung spielen also ethische oder moralische Forderungen, die zum Setzen einer Sonde gegen den Willen des Patienten führen können, keine Rolle.
Der Wille des Patienten steht im Mittelpunkt
Denn Ethik und Moral gebieten, den Patientenwillen auf jeden Fall zu respektieren. Es gibt keine ethisch-moralische Legitimation sich über den Patientenwillen hinwegzusetzen. Ich kann also nicht einfach argumentieren, eine Sonde nicht zu setzen sei ethisch unmoralisch, weil der Patient nicht verhungern und verdursten darf – das geht ausdrücklich nicht! Patient und Angehörige als rechtliche Vertreter des Patienten und Arzt treffen eine Entscheidung – und das Pflegepersonal muss sie umsetzen. Das Personal im Heim ist stets an die ärztliche Anweisung und Vorgaben gebunden. Es kümmert sich um die delegierte ärztliche Behandlung – die sogenannte Behandlungspflege. Deshalb reden Pflegekräfte auch nicht mit, wenn die Frage entschieden werden muss, ob eine Sonde gelegt werden soll oder nicht. Darüber entscheidet allein der Arzt. Eine denkbare Ausnahme wäre: Eine Pflegerin weiß als Zeugin, was der Patient einmal zur Frage der künstlichen Lebensverlängerung gesagt hat – also rein faktische Dinge in einer möglichen Rolle als Zeugin.
Eine schwierige Situation für Pflegende!
Leider funktioniert diese Trennung der Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten so in der Praxis nicht immer. Im Alltag der Einrichtung bringt sich die Pflege manchmal immer noch ein. Die künstliche Ernährung mit der Sonde hat aber eben nicht mit Essen und Trinken in der Pflege zu tun. Eine Sonde ersetzt nur Essen und Trinken. So wenig wie das nicht-ärztliche Personal über die künstliche Niere entscheidet, so wenig hat es über die Sondenernährung zu entscheiden. Deshalb kann auch eine Sonde nicht gegen den Willen des Patienten, wie er vom Betreuer oder vom Bevollmächtigten übermittelt wird, gelegt werden. Entscheidend ist immer nur der Wille des Patienten, nicht der des Arztes, der Angehörigen oder der Pflegekräfte. Eine Sondenernäh – rung gegen den Patientenwillen ist strafbar. Das Pflegepersonal muss den Willen des Patienten unbedingt beachten, um sich nicht strafbar zu machen. Wer eigenmächtig und gegen den Willen des Patienten künstlich ernährt, begeht eine Körperverletzung oder – etwa bei Komplikationen – sogar eine Tötung. Beides ist immer strafbar.
Das Gericht spricht stets ein Wort mit
Eine gerichtliche Entscheidung muss in Ausnahmefällen über den vorgelegten Willen des Patienten getroffen werden, und zwar nur dann, wenn der Arzt den Willen des Patienten, wie er von den Verwandten vorgetragen wird, nicht glaubt, oder er den Verdacht hegt, die Patientenverfügung könne gefälscht sein. Wenn der Arzt sagt, „Ich glaube nicht, was man mir erzählt oder was man mir an Dokumenten vorlegt“ – dann ist das Gericht gefragt. Übrigens beschäftigen sich die häufigsten rechtlichen Fragen in Bezug auf das Legen einer PEG-Sonde mit dem Nicht-Legen oder Entfernen der Sonde – ist das ein Tötungsdelikt? Der BGH stellte am 25. Juni 2010 klar: Es ist keine strafbare Sterbehilfe, wenn man dem Willen des Patienten folgt. Ganz im Gegenteil: Das Sterben durch die Sonde zu verlängern, ist häufig bereits kontraindiziert und damit als Körperverletzung strafbar. Das passt auch zu den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung seit 1998: „Lebenserhaltungspflicht nur innerhalb der Grenzen des Patientenwillens“
Darf man einen Menschen verhungern lassen?
Offensichtlich aber gibt es gerade bei diesen Fragen immer noch eine Menge falscher Vorstellungen – nicht nur in der ethischen Frage sondern auch über die tatsächlichen Vorgänge im Körper eines Sterbenden. Die Vorstellung, bei Beenden der künstlichen Ernährung drohe ein grausamer Tod, ist falsch. Es kommt vielmehr zu einer terminalen Urämie. Der Patient wird müde, schläft ein, fällt in Ohnmacht, in ein tiefes Koma und verstirbt ohne Empfinden von Leid in tiefster Bewusstlosigkeit. Der Patient stirbt, wie es sich jeder wünscht: „Ich möchte nicht leiden und einfach hinüberschlafen!“ Ein Standardfall ist etwa der Demenzkranke, der meist schon nicht mehr ausreichend isst und immer weniger trinkt. Da beginnt das natürliche Sterben bei Demenz. Wenn Sie einen solchen Patienten mit Wasser vollpumpen, retten Sie am Gehirnabbau trotzdem nichts. Heute ist es aus medizinischer Sicht der Goldstandard, bei Demenz in der Regel nicht mehr auf eine künstliche Ernährung mit Hilfe einer Sonde überzugehen. Grundsätzlich bleibt als Fazit festzuhalten: Natürlich ist es in jedem einzelnen Fall der Erwägung einer künstlichen Ernährung zuerst immer eine ärztliche Entscheidung nach strenger Indikationsstellung für den Bewohner. Und immer muss der Wille des Patienten beachtet werden. Deshalb sollte bei der Palliativ-Pflege über jedem Bett stehen: Des Menschen Wille ist sein Himmelreich!
Ein besonderer Fall: Sondenernährung bei Demenz
Bei Bewohnern mit fortgeschrittener Demenz, die zu einer oralen Nahrungsaufnahme nicht mehr fähig sind, erfolgt in Einrichtungen oft die Versorgung mit einem durch die Bauchdecke in den Magen eingeführten Schlauch (so genannte PEG-Sonde) zur künstlichen Ernährung von Bewohnern, so eine Feststellung von Prof. Gian Domenico Borasio anlässlich der Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss des Bundestags am 04.03.2009. Alle vorhandenen Studien haben keine Hinweise dafür ergeben, dass die mit dieser Maßnahme angestrebten Therapieziele erreicht werden können. Es zeigen sich keine dung. Daher wurde schon vor Jahren von Experten ausgesprochen: „Dieses Missverhältnis zwischen Vorteilen und Nachteilen der künstlichen Ernährung begründet die Empfehlung, dass künstliche Ernährung bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz nicht angewen- Dort heißt es weiter, dass alle vorhandenen Studien keinen Hinweis dafür ergeben hätten, dass die mit dieser Maßnahme angestrebten Therapieziele erreicht worden seien. Es zeigten sich, so der Palliativmediziner aus Lausanne weiter, keine Unterschiede hinsichtlich Lebensverlängerung, Verbesserung des Ernährungsstatus, Verbesserung der Lebensqualität, Verbesserung der Wundheilung oder Verringerung der Aspirationsgefahr. Letztere sei sogar bei Patienten mit PEG-Sonde leicht, aber signifikant erhöht. Die PEG-Sonde habe außerdem schwere potentielle Nebenwirkungen, wie lokale und systemische Entzündungen, Verlust der Freude am Essen und Verringerung der pflegerischen Zuwendung. Daher wurde schon vor Jahren von Experten festgestellt: Dieses Missverhältnis zwischen Vorteilen und Nachteilen der künstlichen Ernährung sei Grund genug für eine Empfehlung, dass künstliche Ernährung bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz nicht angewendet werden sollte. Das Fazit des Sachverständigen: „Es fehlt für diese Maßnahme in dieser Patientengruppe schlicht die medizinische Indikation – trotzdem wird sie über 100.000 Mal jährlich in Deutschland durchgeführt.“
Ein Paar bekommt ungewollt Zwillinge und wird so zur sechsköpfigen Familie – nun muss der Gynäkologe 90000 Euro Schadenersatz zahlen
Eine ungewöhnliche Verhütungspanne hat bei Münchner Eltern zu einem Zwillingspärchen geführt. Dafür muss der Hausgynäkologe nun 90 000 Euro Schadenersatz bezahlen. Die Eltern, die bereits zwei Kinder hatten, sehen den ungeplanten Nachwuchs zwar als glückliche Bereicherung, mussten ihr Leben aber massiv umkrempeln. Der Frauenarzt ließ sich nun vor dem Landgericht München I auf eine Kompromisslösung ein: Da er nicht beweisen konnte, ein Hormonstäbchen zur Langzeitverhütung korrekt implantiert zu haben, erklärte er sich freiwillig zur Zahlung bereit. Zwei liebe Kinder, eine schöne Dachwohnung und ein akzeptables Einkommen – dazu zwei Autos, wenn auch nicht mehr ganz taufrisch. Für ein Münchner Ehepaar war die Welt 2011 in Ordnung. Weil die Eheleute die Familienplanung mit zwei damals drei und fünf Jahre alten Sprösslingen als abgeschlossen betrachteten, ging die 32-jährige Frau zu ihrem Gynäkologen. Der riet ihr zu einem „Implanon“ Hormonstäbchen. Dieses Verhütungsmittel wirkt ähnlich wie die Pille, muss aber nicht täglich eingenommen werden: Ein Kunststoffstäbchen, indem sich der Wirkstoff Etonogestrel befindet, wird mit einer Spritze im Oberarm unter der Haut platziert, wo es gleichmäßig Hormone freisetzt. Bald darauf fühlte sich die Frau seltsam schlapp und litt unter Schwindelgefühlen. Der Arzt führte das bei mehreren Telefonaten auf die Hormonwirkung zurück. Vier Monate später stellte der Doktor eine Zwillingsschwangerschaft fest. Wie das passieren konnte, wird für immer ein Rätsel bleiben. Untersuchungen ergaben, dass das Hormonstäbchen unauffindbar war. Auch der Wirkstoff war im Blut nicht nachweisbar. Im August 2012 kamen durch Kaiserschnitt ein Bub und ein Mädchen zur Welt. Die Eltern hatten bis dahin in einer aus zwei kleineren Wohnungen zusammengelegten 160 Quadratmeter großen Dachwohnung gelebt. Beide Eheleute waren voll berufstätig und teilten sich auch den Haushalt. All das war nun nicht mehr möglich: Die Wohnung musste wieder zurückgebaut und eine neue gesucht werden, zumal der Weg für die nunmehr sechs Personen unters Dach im dritten Stock ohne Lift zu beschwerlich war. Die Frau musste beruflich pausieren, ein 20 Jahre alter Mercedes wurde schweren Herzens verkauft und ein praktischer Koreaner angeschafft. Die Eltern warfen nun dem Arzt vor, das Implanon-Stäbchen nicht korrekt eingesetzt zu haben. Möglicherweise wurde es beim Zurückziehen der Kanüle wieder entfernt. Vor Gericht betonte Rechtsanwältin Beate Steldinger immer wieder, dass die Eltern mit den beiden weiteren Kindern keineswegs unglücklich sind: „Sie erfreuen sich vielmehr jeden Tag an ihren nunmehr vier Kindern – eine sechsköpfige Familie entsprach jedoch nicht deren Lebensplanung, die sie mit der sichersten zur Verfügung stehenden Verhütungsmethode umsetzen wollten.“ Ein vom Gericht beauftragter Sachverständiger aus Kiel sah zunächst keinen Behandlungsfehler. Die Klägeranwältin beauftragte daraufhin einen Experten aus Freiburg mit einem weiteren Gutachten. Dieser Professor sagte, dass ein Produktfehler auszuschließen sei – genauso wie ein unbemerktes Herausfallen des Stäbchens oder ein Abtransport durch die Blutgefäße. Es sei davon auszugehen, dass es tatsächlich vom Gynäkologen gar nicht eingebracht wurde und somit ein fehlerhaftes Vorgehen des Arztes vorliege. Die 9. Zivilkammer stellte daraufhin fest: „Das Geschehen ist rätselhaft.“ Es spreche tatsächlich einiges dafür, dass dem Arzt ein Fehler passiert sei. Deshalb sei dieser nun in der Pflicht, das Gegenteil zu beweisen. Da dies aber nahezu unmöglich sein dürfte, regte das Gericht zunächst die Zahlung von rund 60 000 Euro an. Das lehnte die Anwältin als zu wenig ab. „Eine Abtreibung oder eine Abgabe der Kinder zur Adoption wäre für die Eltern niemals in Betracht gekommen“, erklärte Anwältin Steldinger. „Dennoch führte hier ein fehlerhaftes Vorgehen des Gynäkologen zu einer ungewollten Schwangerschaft, die zweifellos zu einer finanziellen Mehrbelastung der Familie geführt hat. Nicht die Kinder sind der Schaden, sondern die Mehrbelastung der Familie. “ Schließlich einigte man sich auf 90 000 Euro. Die Eheleute, die keine Rechtsschutzversicherung haben, hatten für ihre Klage Rückendeckung durch eine Prozessfinanzierungsgesellschaft suchen müssen. Denn solche Arzthaftungsverfahren sind oft mit einem erheblichen Kostenrisiko verbunden. In diesem Fall hätten die klagenden Eheleute das finanzielle Risiko von rund 20000 Euro alleine nicht auf sich genommen. Allerdings wird der Finanzierer nun einen Teil des Geldes bekommen – den Eltern werden unter dem Strich etwa die vom Gericht ursprünglich vorgeschlagenen 60 000 Euro bleiben.
Ekkehard Müller-Jentsch
Familiendrama Ein kürzlich vor dem BGH beendeter Streit über die Wirksamkeit einer Patientenverfügung legt nahe, dass viele Dokumente überarbeitet werden sollten. Was jetzt zu tun ist
D ie Patientin war sich in gesunden Zeiten völlig sicher, dass sie für den Ernstfall vorgesorgt hatte: »So etwas kann mir nicht passieren«, sagte sie mit Blick auf zwei Wachkoma-Fälle im nahen Umfeld, »schließlich habe ich ja eine Patientenverfügung.«
1998 hatte sie das Dokument aufgesetzt, in dem sie unter anderem klarstellte, dass sie für den Fall, dass »keine Aussicht auf Wiedererlangung des Bewusstseins« bestehe, keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr wünschte. Nur Schmerzen und Angst sollten dann noch medikamentös gelindert werden.
Tatsächlich wurden ihre schlimmsten Ahnungen wahr: 2008 erlitt die damals 68-Jährige einen schweren Schlaganfall, kurze Zeit später fiel sie nach -einem Herz-Kreislauf-Stillstand in ein dauerhaftes Wachkoma und wurde seither über eine PEG-Sonde, einen Schlauch durch die Bauchdecke in den Magen, künstlich ernährt. Im vergangenen November entschied abschließend der Bundesgerichtshof, dass ihre Patientenverfügung umgesetzt werden muss. Die Frau durfte nun endlich sterben.
Festlegungen sind bindend
Seit 2009 gilt der Grundsatz, dass Patientenverfügungen für Ärzte und Betreuer verbindlich sind – sie müssen umgesetzt werden, auch durch die sogenannte passive Sterbehilfe, bei der medizinische Behandlungen unterlassen oder abgebrochen werden. Im Fall der Wachkoma-Patientin kamen aber einige Umstände hinzu, die letztlich doch dafür sorgten, dass die Patientin länger am Leben gehalten wurde, als sie es ursprünglich -gewünscht hatte. Denn die Patientenverfügung aus dem Jahr 1998 untersagte – im Gegensatz zu den -inzwischen üblichen Mustern – nicht konkret die künstliche Ernährung und Flüssigkeits-zufuhr, sondern es war nur von »lebensverlängernden Maßnahmen« die Rede, die unterbleiben sollten. Außerdem enthielt die Verfügung den Passus »Aktive Sterbehilfe lehne ich ab«, der zumindest beim ebenfalls tief katholisch geprägten Ehemann den Schluss zuließ, dass nach dem Verständnis der katho-lischen Kirche im Jahr 1998 damit auch ein Abbruch der künstlichen Ernährung ausgeschlossen sei.
Nach §1904 des Bürgerlichen Gesetzbuchs bedürfen Entscheidungen, die die Gefahr einschließen, dass der Patient stirbt, einer Einwilligung des Betreuungsgerichts, sofern die Patientenverfügung nicht unzweifelhafte Festlegungen enthält. Dies führte hier zu fast endlosen Verzögerungen. Denn während der ursprünglich zur Durchsetzung der Patientenverfügung bevollmächtigte Sohn seit 2012 den Abbruch der Sondenernährung forderte, wehrte sich der ebenfalls als -alleinvertretungsberechtigter Betreuer eingesetzte Ehemann der Patientin vehement dagegen. Er fürchtete, dass seine Frau, die er selbst pflegte, durch die Einstellung der Ernährung leiden könnte.
Nachdem zwei Instanzen die Einstellung der Sondenernährung per Beschluss untersagt hatten, entschied der Bundesgerichtshof im Februar 2017, dass die -Gerichte eine Patientenverfügung primär nach ihrem schriftlich niedergelegten -Inhalt auszulegen haben und sich nicht in Erwägungen über das Wertesystem der betroffenen Person verlieren dürfen (Az. XII ZB 604/15). Sofern eine Patienten-verfügung hinreichend konkret den Willen des Patienten zum Ausdruck bringt, müssen die zur Genehmigung angerufenen Betreuungsgerichte ein sogenanntes Negativattest erteilen. Das bedeutet, dass eine gerichtliche Zustimmung nicht nötig ist und der Betreuer den Willen des Patien-ten allein zur Geltung bringen kann.
BGH-Senat gibt klare Linie vor
Im Streit um das Schicksal der Patientin musste nun aber geklärt werden, ob die Patientin noch eine Chance hat, ins Bewusstsein zurückzukehren. Nachdem der Gutachter dies eindeutig verneinte, erteilte das Landgericht das Negativattest – -allerdings gelangte die Sache wegen einer Beschwerde des Ehemanns noch einmal zum BGH. Dort wurde das Urteil des Landgerichts vollumfänglich bestätigt: Soweit eine wirksame Patientenverfügung vorliegt, sind die Gerichte nicht zur Genehmi-gung des Abbruchs der lebenserhaltenden Maßnahmen berufen, sondern haben die eigene Entscheidung der Betroffenen zu akzeptieren und ein Negativattest zu erteilen (Az. XII ZB 107/18).
Dass der Ordnungsruf des XII. Senats alle Unklarheiten beseitigt, ist angesichts der vielen Textmuster, die in den vergangenen dreißig Jahren kursierten, keineswegs zu erwarten – denn die Verantwortung liegt bei denen, die ein solches Dokument errichten.
Rechtsanwältin Tanja Unger aus der u. a. auf Patientenverfügungen spezialisierten Kanzlei Putz, Sessel, Steldinger (www.putz-medizinrecht.de) rät vor dem Hintergrund dieses tragisch anmutenden Rechtsstreits dazu, sich vor dem Verfassen einer Patientenverfügung vor Augen zu führen, um was es im Grundsatz geht: »Der Zweck einer Patientenverfügung ist, in bestimmten Behandlungssituationen bestimmte lebensverlängernde Maßnahmen, wie zum Beispiel eine künstliche Ernährung, zu verbieten. Dabei muss man die einzelnen Maßnahmen konkret benennen.« Durch die Verwendung eines aktuellen, von Experten verfassten Formulars könne man sicher sein, dass die Wünsche dann auch von Ärzten und Juristen anerkannt werden. »Der Verweis des Bundesgerichtshofs auf das Negativattest bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass Betreuern und Ärzten der Weg zum Gericht versperrt wäre«, betont Anwältin Unger. »Wenn es Zweifel über Anordnungen einer Patientenverfügung gibt, können Beteiligte das Gericht immer anrufen.«
Angesichts der komplexen Materie sei es auch nicht sinnvoll, eine Patientenverfügung lange Jahre im Schrank liegen zu lassen: »Durch die Rechtssprechung, aber auch durch medizinische Entwicklungen ergeben sich immer wieder neue Aspekte, die ein Nachbessern in der Formulierung der Textmuster erforderlich machen. Oft sind das Nuancen, aber sie sind eben wichtig, um Unstimmigkeiten zu vermeiden«, erläutert Tanja Unger. Daher solle man sie wenigstens alle zwei Jahre überprüfen und neu unterschreiben, nötigenfalls aber auch die Formulierungen präzisieren. Rechtsanwältin Unger verweist in diesem Kontext auf die Patientenverfügung des bayerischen Justizministeriums, die von einem Gremium aus Juristen und Medizinern laufend aktualisiert wird und als Broschüre mit umfangreichen Erläuterungen auch gratis erhältlich ist.
Die bayerische Broschüre »Vorsorge für Unfall, Krankheit, Alter« ist als Download gratis über www.bestellen.bayern.de unter dem Menüpunkt »Justiz« erhältlich oder kann gedruckt im Buchhandel unter der ISBN-Nummer 978-3-406-71787-1 zum Preis von 5,50 Euro bestellt werden.
Ein Hausarzt wird verklagt, weil er einen Schwerstkranken zu lange am Leben hielt: Das Verfahren könnte den Alltag in deutschen Pflegeheimen verändern
Im Inneren eines filigranen Baus des bekannten Architekten Sep Ruf tagt die Arzthaftungskammer des Landgerichts München I. Der Vorsitzende Richter lässt die Vorhänge schließen, das muntere Licht des bayerischen Föhns wirkt wie ein Hohn angesichts der Leides jenes verstorbenen alten Mannes, dessen Schicksal hier verhandelt wird. Die Düsternis des Treppenhauses, in dem sich die Prozessbeteiligten in der Pause treffen, passt da besser. Alle beginnen gleichzeitig zu reden. »Ich lag auch schon mal im Koma«, mischt sich ein älterer Zuschauer ein, »was, wenn die Ärzte die Apparate damals abgestellt hätten?« ungeheuerliche Vorstellung – er wäre heute nicht mehr da. Auch der Beklagte diskutiert mit. Er ist Hausarzt in einem Münchner Vorort. Ihm wird vorgeworfen, einen schwer dementen Mann mit einer Magensonde am Leben erhalten und dadurch – in den letzten zwei Jahren – dessen Leiden über Gebühr verlängert zu haben. »Dann sagen Sie mir doch, wann der richtige Zeitpunkt ist, abzuschalten!«, faucht er. Sein Schnurrbart bebt vor Wut. Kläger ist der Sohn des Toten. Er fordert als Rechtsnachfolger und Erbe Schadensersatz für die aufgelaufenen Kosten der jahrelangen Behandlung und Schmerzensgeld für das in seinen Augen unerträgliche Lebensende des Vaters. Der Streitwert liegt bei 150 000 Euro, doch es geht um weit mehr: für Ärzte und Pfleger, falls sich durchsetzt, dass sie künftig mit Zivilklagen überzogen werden können, wenn sie den Sterbeprozess verzögern; für Patienten, wenn hier neue Standards für die letzte Lebensphase definiert werden sollten; für die Gesellschaft, weil hier der verdrängten Frage auf den Grund gegangen wird, wann der Tod einem qualvollen Siechtum, im Juristendeutsch wrongful life, vorzuziehen ist. Verhandelt wird dies alles am Schicksal des Heinrich S., das gewiss nicht repräsentativ, aber im Kern doch verallgemeinerbar ist: S., Jahrgang 1929, erkrankt im Alter von 66 Jahren an einer schweren Form von Demenz. Seine geschiedene Frau hat sich schon länger von ihm zurückgezogen, und auch der klagende Sohn, Heinz S., pflegt kein inniges Verhältnis zu dem ehemaligen Alkoholiker. Heute deutet der 57-jährige Sohn die schwierige Beziehung zum Vater so: » Er war durch seine Krankheit in der Persönlichkeit verändert.«
Die künstliche Ernährung durch Magensonden ist ein Milliardengeschäft
Am Tag, als der Vater seinen Dienst als Briefträger quittiert und in Ruhestand geht, zieht der Sohn um – von München nach North Carolina zu seiner neuen Liebe. Bei einem Besuch in der Heimat trifft er den Vater derart verwahrlost an, dass er ihn in einem Pflegeheim unterbringt. Vater S. bekommt einen gerichtlich bestellten Betreuer, der die Sorge für den Dementen übernehmen soll. Ein verwirrter Postbote, eine entfremdete Familie, eine anonyme Großstadt – die Geschichte könnte vom Münchner Schriftsteller Friedrich Ani stammen. Was für das ausufernde Leid des alten Mannes aber letztlich den Ausschlag gibt: Er hat keine Patientenverfügung und kein verlässliches Umfeld, das ihm beisteht. Wie so viele andere auch. Zwar interessieren sich die Deutschen für das Thema Patientenverfügung, doch nur etwa die Hälfte der über Sechzigjährigen hat eine. Angesichts hoher Scheidungsraten und verbreiteter Kinderlosigkeit könnten viele Deutsche irgendwann in die Lage des einsamen Postmanns geraten. Vor seiner Erkrankung ging Heinrich S. gern unter Leute und fotografierte viel. Die Art und Weise, wie er später sterben muss, ist nicht bloß trostlos, sie ist in den Worten des Pioniers der Palliativmedizin, Gian Domenico Borasio, »grausam«. Borasio beobachtet wie viele seiner Kollegen den Zivilprozess mit Spannung. Der wirft nämlich Fragen auf, die Ärzte, Pfleger und Patienten gleichermaßen tangieren. Die Höllenfahrt des S. im Zeitraffer: 1996 Demenzdiagnose, Depression, Inkontinenz und chronische Schmerzen. Seit 2003 verstummt, festgebunden, er will nicht essen, ist ängstlich und aufgeregt. 2006: er kann seine Lage nicht mehr erkennen. Die Muskulatur ist so angespannt, dass er nicht mehr »fixiert« werden muss. September 2006: Krankenhaus wegen Fieberschüben, rasselnder Lunge, Austrocknung. Da er nicht mehr isst, wird eine Ernährungssonde gelegt. Vier Tage später: Lungenentzündung. Der Patient ist mangelernährt, ausgezehrt, geistig weggetreten, ohne Muskelreflexe. Deshalb wird eine dauerhafte PEG-Magensonde verordnet. Die PEG-Sonde ist ein Schlauch, der durch die Bauchdecke in den Magen führt. Sie ermöglicht etwa Frühgeborenen, Intensivpatienten oder Menschen mit Schlundtumoren das Weiterleben. Sie wird aber auch vielen Pflegebedürftigen zwangsverordnet, die willentlich oder aus Versehen nicht mehr essen, bis zu hunderttausendmal im Jahr. Februar 2007: S. werden alle Zähne gezogen. Juni 2007: Lungenentzündung und Schluckbeschwerden. 2008: Heinrich S. liegt mit geöffnetem Mund im Liegerollstuhl. Kopf, Arme, Beine lassen sich auch von Dritten nicht mehr bewegen. Juni 2010: Krankenhaus. Die Lunge rasselt. Mehrere nekrotische Druckgeschwüre. Wird S. angesprochen, jammert er. Oktober 2011: Krankenhaus. Fieber, brodelnde Atmung. Heinrich S. stirbt am 19. Oktober 2011 im Alter von 72 Jahren – endlich, möchte man sagen. Sechs Jahre lang hing er am Schlauch. Fragen, ob ihm das recht sei, konnte man ihn nicht. Aber es gibt Gründe, anzunehmen, dass er es nicht gewollt hätte. Die PEG-Sonde löst Unruhezustände aus, verhindert aber nicht die gefürchteten Lungenentzündungen bei Bettlägerigen, nicht das Wundliegen, nicht einmal die Mangelernährung. Heinrich S. war trotz der Magensonde unterernährt und ausgetrocknet. Entsprechend schlecht ist der Ruf dieser Maßnahme. Der Studie eines amerikanischen Geriaters zufolge wollte nur ein Drittel der von ihm befragten Pflegeheimbewohner im Fall der Unfähigkeit zur Nahrungsaufnahme über eine Sonde ernährt werden. Zwei Drittel ziehen es vor, friedlich zu sterben
Trotzdem ist die Sonde Alltag in Pflegeheimen. Das hat Gründe. Ernährung ist Leben, die Vorstellung, jemanden verhungern zu lassen, ist grausam. Ernährung ist aber auch Gefühl. Essen etabliert eine tiefe Bindung, zunächst durch die Nabelschnur, dann an der Mutterbrust, dann an der Familientafel oder am Stammtisch. Claus Fussek kämpft seit 35 Jahren für die Würde in Pflegeheimen. Der 62-jährige Sozialpädagoge lässt, obwohl sich sein Schreibtisch unter den Akten über erbarmungswürdige Sondenträger biegt, keinen Zweifel aufkommen: »Die Drohung von Ärzten und Pflegern: ›Sie wollen Ihren Vater doch nicht verhungern lassen‹, ist ein schweres Geschütz.« So geschah es laut Heinz S. auch im Fall seines Vaters: Der Sohn drängte, als ihm der Zustand des Multimorbiden schrecklich erschien, auf das Entfernen der Sonde. Doch er konnte sich mit dem Rechtsbetreuer des Vaters nicht einigen und geriet in einen Rechtsstreit. Das Problem: Der Sterbeprozess des Vaters hatte noch nicht begonnen, der Patient war, so drückt es der Gutachter aus, »ein bedauernswerter Mensch, aber internistisch gesehen gesund«. Mediziner und Pfleger haben das Tun im Blick, nicht das Lassen. Außerdem müssen sie in Zeiten, da Kliniken und Heime um Patienten konkurrieren, auch Betten belegen. Claus Fussek, unermüdlicher Rufer in der deutschen Pflegewüste, weist darauf hin, dass Sonden ein Milliardengeschäft seien. In vielen Fällen dienten sie dem Interesse der Pfleger und nicht dem der Gepflegten. Bei der straffen Taktung in vielen Heimen sei eben nicht genügend Zeit, einen dementen Menschen in Ruhe zu füttern. Dem Rechtsanwalt Wolfgang Putz, der den klagenden Sohn vertritt, geht es in diesem Prozess aber nicht um die Verbesserung von Pflege und Palliativbehandlung, er zielt auf das Recht auf einen friedlichen Tod. Schon 2010 hat Putz eine zukunftsweisende Entscheidung des Bundesgerichtshofs erwirkt: Weil ein Pflegeheim eine Wachkomapatientin fünf Jahre lang gegen den Willen der Angehörigen per Sonde ernährte, hatte Putz der
Tochter der 77-Jährigen geraten, den Schlauch durchzuschneiden. Dafür verurteilte das Landgericht Fulda den Rechtsanwalt zu neun Monaten auf Bewährung und 20 000 Euro Strafe. Der Staatsanwalt hielt ihm vor, sich zum »Herrn über Leben und Tod« aufzuspielen. Doch der BGH sah es anders und sprach Putz frei: Wer mit aller Medizin für das Leben kämpfe, auch wenn der Kampf aussichtslos sei und das Patientenwohl dem entgegenstehe, mache sich ebenfalls zum Herrn über Leben und Tod. Den eingeschlagenen Weg will Putz weiterbeschreiten. »Ärzte dürfen sich nicht über den Willen des Patienten hinwegsetzen, auch nicht, wenn sich Angehörige für lebensverlängernde Maßnahmen einsetzen – dies wurde mehrfach gerichtlich bestätigt. Die Frage ist nun, welche Umstände den Abbruch einer Behandlung unabhängig vom Patientenwillen gebieten.«
Eine medizinische Therapie muss auf zwei Säulen ruhen: Sie muss fachlich sinnvoll sein (Ärzte sprechen von »indizierter« Therapie) und dem Patientenwillen entsprechen. Auch der Gerichtsgutachter bestätigt in München, der Krankheitsverlauf des Heinrich S. sei »infaust« gewesen, also ohne jede Aussicht auf Heilung. Die Magensonde sei daher – zumindest in den letzten 18 Monaten – nicht mehr indiziert gewesen. In diesem Punkt werden sich die beiden Parteien einig. Aber hätte der Arzt die Sonde deshalb entfernen müssen? Die entscheidende Frage ist die nach dem Patientenwillen. Hat ein Patient keine Verfügung erlassen, muss mit seinen Fürsprechern, der Familie oder dem Bevollmächtigten, abgewogen werden, wie er bei seriöser Aufklärung wohl selbst entschieden hätte. Und an diesem Punkt scheiden sich die Geister. »Wir wünschen uns so etwas alle nicht«, gesteht der Münchner Vorsitzende Richter Peter Lemmers dem Kläger zu, doch könne eben niemand die Wahrnehmung eines Patienten kennen und wissen, was Heinrich S. wirklich gewollt hätte. Leiden sei subjektiv. Der Gerichtsgutachter sieht das genauso: Viele Patienten zeigten trotz extremen Leidens auch extremen Lebenswillen. Der Kläger hält dagegen. Eine Magensonde gegen den Patientenwillen zu legen sei Körperverletzung. Sie verstoße gegen das Persönlichkeitsrecht, die Selbstbestimmung und die Integrität des Hilflosen. Wo kein Wille ermittelbar ist, muss man sich an die Wertvorstellungen einer Gesellschaft halten. »Ungefähr seit der Jahrtausendwende wird die früher allgemein akzeptierte gesellschaftliche Grundhaltung, dass Leben um jeden Preis erhalten werden müsse, in Gerichtsurteilen immer wieder eingeschränkt«, sagt der Fachmann Borasio. Ein Leben muss würdig und friedlich enden dürfen. Neben entsprechenden Gerichtsurteilen weise noch etwas auf einen Wertewandel hin: Die allermeisten Patientenverfügungen treffen »negative« Regelungen. Sie halten fest, welche Interventionen sich die Menschen am Ende des Lebens nicht wünschen. Die meisten betrachten also nicht nur das Leben an sich, sondern auch die Qualität des Lebens als Wert. Deshalb hätte sich wohl auch Heinrich S. gegen eine Dauerernährung entschieden.
Lebensverlängerung um jeden Preis oder »liebevolles Unterlassen«?
Doch schleicht sich nicht durch die Hintertür die Frage ein, welches Leben lebenswert ist? Bevor das böse Wort » Euthanasie« fällt, erklärt der Palliativmediziner, in seiner Disziplin sei es Standard, den Menschen Leiden im ganzheitlichen Sinne zu er – sparen, nicht nur Schmerzen, sondern »total pain«. Der Begriff geht auf die Begründerin der Palliativmedizin, Cicely Saunders, zurück und umfasst die verschiedenen Nöte eines Sterbenden: Einsamkeit, Verstummen, Sinnleere, existenzielle Angst. All diese Aspekte seien zu berücksichtigen. Kann das ein Hausarzt? In dieser Frage lassen sich die Positionen nicht versöhnen. Richter Lemmers und der Gerichtsgutachter bezweifeln, dass der behandelnde Hausarzt allein habe entscheiden können (oder dürfen), wann es genug war für Heinrich S. Auf der anderen Seite stehen die klagende Partei, aber auch Palliativmediziner wie Borasio und Pflegeexperten wie Fussek. Früher sprach man in diesem Zusammenhang von »passiver Sterbehilfe«. Der BGH selbst hat den Begriff inzwischen durch den ebenfalls negativ besetzten des »Behandlungsabbruchs« ersetzt. »Dabei bricht ein Arzt nie die Behandlung ab«, sagt Borasio. »Aber für jeden Patienten und auch für uns selbst kommt irgendwann im Leben ein Punkt, an dem das Therapieziel der Lebensverlängerung keinen Sinn mehr macht. Die logische Folge ist eine Änderung des Therapieziels zugunsten der Lebensqualität bis zum Ende, also eine palliativmedizinische Haltung. Diese kann sehr wohl aktive und sogar invasive Eingriffe zur Folge haben, sofern sie zum Erreichen des Therapieziels – Lebensqualität und Leidenslinderung – notwendig sind. Sie sehen, wir sind hier meilenweit von jeder Euthanasiedebatte entfernt.« Borasio nennt es »liebevolles Unterlassen«. Auch das erfordere Mut. Der Vorsitzende Richter Michael Lemmers sucht den Kompromiss. Seine Kammer weist den Anspruch des Klägers auf Schmerzensgeld und Haftung ab ( a Z 9 O 5246/14). Zwar habe für die künstliche Ernährung keine Indikation mehr vorgelegen, zwar habe der Arzt die Angehörigen über die Verlängerung des Leidens zu informieren und deren Einschätzung des Krankenwillens einzuholen – dass der Hausarzt dies versäumte, sei ein ärztlicher Behandlungsfehler –, aber der Kläger habe nicht nachweisen können, dass sich sein Vater gegen die Sondenernährung entschieden hätte. Damit öffnet sich die Tür für künftige Haftungsklagen bei unterlassener Aufklärung über sinnloses Leid. Rechtsanwalt Putz betrachtet das Urteil als »Meilenstein«, habe das Gericht doch erstmals in der deutschen Medizinrechtsgeschichte die künstliche Lebensverlängerung per Magensonde bei Schwerstkranken ohne Therapieaussichten als nicht indiziert beurteilt und gefordert, dass über die Magensonde laufend neu entschieden werden müsse. Der Kläger will nun versuchen, in der nächsten Instanz vor dem Bundesgerichtshof diese Tür noch ein Stück weiter aufzustoßen.