Liebevoll streichelt Alfons K. (65) seinem Sohn über die Hand. Dann führt er einen Löffel zu dessen Mund. „Es gibt Spätzle, willst du probieren?“ Langsam öffnet Korbinian (20) die Lippen, sein Blick ist starr, dann fängt er an zu kauen und lächelt. Mit einem Lätzchen wischt der Vater ihm danach sorgfältig den Mund ab.

Glücklich wirkt die kleine Familie, als die tz sie in einem Münchner Vorort besucht – trotz allem. Denn Korbinian hat ein schweres Schicksal erwischt: „Er kann nichts alleine machen und weiß das auch“, sagt Mutter Ursula (62). Mit 41 war sie schwanger, doch drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin kam es zu schweren Komplikationen, die der Frauenarzt – wie sich erst viel später herausstellte – falsch einschätzte. Korbinian kam im Dezember 2004 schwerbehindert zur Welt, seither sitzt er im Rollstuhl und ist im Alltag auf maximale Pflege angewiesen. „Das war nicht einfach zu akzeptieren für uns“, sagt Alfons K. „Aber wir wollten das Beste aus unserer Situation machen“, sagt Ursula K. Auch, weil nicht klar war, wie es mit Korbinians Gesundheit werden wird.

Zehn Jahre lang dachten die Eltern, dass der Geburtsschaden „eben Schicksal war“, wie die Mutter sagt. Bei dem Arzt war sie seit vielen Jahren in Behandlung und fühlte sich gut aufgehoben. Dass er fatale Fehler gemacht hatte, erfuhr die Familie erst durch ein Gutachten der Krankenversicherung. Die eigene Geschichte: plötzlich nicht mehr dieselbe. Und es stellte sich auch die Frage nach der Schuld. „Das war schon sehr belastend“, sagen die Eltern. Sie engagierten die Medizinrechtskanzlei Putz und Steldinger für eine Klage, danach begann ein echter Krimi: Der Frauenarzt war mittlerweile verstorben, auch dessen Mutter als die Erbin – und zurück blieben deren hohe Nachlass-Schulden. „Letztlich waren Ansprechpartner die Insolvenzverwalterin und die Haftpflichtversicherung, die erst durch monatelange Akribie überhaupt herausgefunden werden konnte“, sagt Fachanwältin Beate Steldinger die den Fall betreute.

Im Jahr 2018 wurde die Klage schließlich beim Landgericht München I eingereicht. Erst im September 2024 kam es endlich zu einer Einigung. Was das für die Familie bedeutete: kaum auszudenken. Sie erhielten eine niedrige siebenstellige Summe für Korbinian – als Entschädigung für Vergangenheit und Zukunft. „Bei dem gerichtlichen Vergleich kam auch zum Tragen, dass die Haftpflichtversicherungssumme nicht ausreichte, um sowohl die Ansprüche des Kindes als auch der Kranken- und Pflegekasse auszugleichen“, sagt Steldinger. Die Familie war also mitnichten reich geworden. Zudem sei „unklar, welche Kosten in Zukunft noch kommen“, erklärt Alfons K. Es sei „in jeder Hinsicht ein tragischer Fall, der auch in seiner Komplexität außergewöhnlich war“, sagt Martin Sebastian Greiff, Fachanwalt für Medizinrecht in der Kanzlei Ratzel. „Auch aus Sicht der Beklagtenseite war es wichtig für Korbinian, dass in diesem Fall ein Ergebnis erzielt werden konnte.“

Bis heute hat Korbinian täglich Schmerzen, kann nicht sprechen oder alleine essen. Mehrfach musste er über die Jahre operiert werden. Doch im Alltag erlebt die Familie auch intensive Freude. Zu Hause, beim Musikhören oder bei gemeinsamen Ausflügen in die Natur. „Wir sind ein gutes Team“, sagen die Eltern. Und Korbinian ein Kämpfer. Er konnte zwischen 2011 und 2024 in einer Spezial-Einrichtung die Schule absolvieren, heute lebt er in einer Wohngruppe mit Therapie – und ist oft am Wochenende bei seinen Eltern. Sie haben ihren Sohn „mit maximaler Anstrengung, Geduld und Energie neben ihrer beruflichen Tätigkeit versorgt“, sagt Steldinger voller Respekt. Gemeinsam haben sie gekämpft – und am Ende gewonnen.

ANDREAS THIEME

Medizinjurist über Rechte kranker Menschen

„Der Feind einer Patientenverfügung lauert oft in der eigenen Familie“

Wer schwer krank ist, kann selbst darüber entscheiden, ob und wie er behandelt werden möchte. Am besten tut man das lange vor dem Ernstfall. Anwalt Wolfgang Putz sagt, wie eine Patientenverfügung formuliert sein sollte.

Ein Interview von Katrin Wilkens
18.01.2025,18.49 Uhr

SPIEGEL: Herr Putz, Sie sind Anwalt für Medizinrecht. Welche Fehler begegnen Ihnen bei Patientenverfügungen immer wieder?

Putz: Oft werden schwurbelige Formulierungen gewählt wie „nicht lebenswertes Leben“. Was lebenswert ist und was nicht, dürfen weder die Ärzteschaft noch der Staat definieren.
Welche Leidenszustände also für den einzelnen Patienten lebenswert oder nicht mehr lebenswert sind, muss sich aus der Patientenverfügung ergeben. Des Weiteren werden
Konsequenzen oft nicht konkret genug beschrieben. Gut ist, wenn man beispielsweise schreibt: „Wenn ich mich dauerhaft und unumkehrbar wegen Verlusts meiner kognitiven
Fähigkeiten zur Behandlung meiner Erkrankung nicht mehr äußern kann, dann verbiete ich lebens- und leidensverlängernde Maßnahmen und wünsche mir nur noch
eine palliative Unterstützung im Sterbeprozess.“

SPIEGEL: Warum setzen sich Ärztinnen und Ärzte in einigen Fällen über den formulierten willen der Patienten hinweg?

Putz: Viele Ärzte argumentieren, die Patientenverfügung sei ihnen zu allgemein formuliert. Dabei kann niemand alle möglichen medizinischen Situationen benennen und dazu
jeweils die Behandlungswünsche und -verbote festlegen. Deshalb ist noch ein Passus wichtig: „Alle nicht konkret genannten Situationen sollen im Sinne meiner Verfügung und
meiner darin geäußerten Werte von meinem Bevollmächtigten durchgesetzt werden.“

SPIEGEL: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einem Urteil vom 17. September 2O24 entschieden, dass der Patientenwille bindend ist.

Putz: Dieses Urteil ist tatsächlich eine Sensation, eine Zeitenwende für die Patientenrechte am Lebensende. weil sich künftig jeder Patient, jeder Angehörige darauf berufen
kann. Viele Arztinnen und Arzte werden leider nur unter dem Damoklesschwert solcher Rechtsfolgen zähneknirschend den Patientenwillen beachten.

SPIEGEL: Gibt es Fälle, in denen eine Patientenverfügung nichts bringt?

Putz: Ja, zum Beispiel bei allen akuten, schweren Gesundheitsschäden mit anfänglich offener Verlaufsprognose.

SPIEGEL: Wie kann ich zu gesunden Lebzeiten verhindern, dass mein Wille im Falle des Falles nicht gehört wird. Hilft es, wenn ich den Hausarzt hinzuziehe?

Putz: Es hilft immer, wenn in der Patientenverfügung steht: „…habe ich mich ausführlich beraten lassen von Dr.XY, Datum, Stempel, Unterschrift“. Manchmal sind das auch nur
taktische Vorteile. wenn später ärztliche Entscheidungen in der Klinik oder im Pflegeheim getroffen werden müssen, telefoniert es sich mit einem „neutralen Kollegen“ leichter.

SPIEGEL: Gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern, wie mein Patientenwille interpretiert wird? Stirbt es sich in Hamburg leichter als in Bayern?

Putz: In Bayern wird nach meiner bundesweiten Erfahrung ein Sterben nach dem Patientenwillen tendenziell eher zugelassen, wohl weil von hier vor mehr als 50 Jahren die
Hospizbewegung ihre Ausbreitung begann. Manchmal sind Ärztinnen oder Ärzte in anonymen Großstädten viel rigider im Verhindern eines Patientenwillens, während die
ordensgeleiteten Krankenhäuser im Süden gern mal sagen: „Aber wenn er doch jetzt zum Herrgott will…“

SPIEGEL: Was kann man tun, wenn es heißt, eine Patientenverfügung sei nicht auffindbar? Muss man sie vorher noch einmal fotografieren – oder bringt das nichts?

Putz: Der Feind einer Patientenverfügung lauert oft in der eigenen Familie. Da gibt es emotionalen Druck: „Willst du Mutter verhungern lassen? Der Pastor sagt doch auch, dass…“
Mitunter werden Familienmitglieder kriminell, indem sie einfach eine Verfügung unterschlagen, also beim behandelnden Arzt nicht vorzeigen. Eine Fotografie kann man leicht manipulieren, besser ist es, eine zweite Ausfertigung zu haben oder das Original zu kopieren und dann noch mal mit „Das ist mein Wille, Datum, Unterschrift“ zu versehen und an einem sicheren Ort mit Zugang
für „sichere“ Dritte aufzubewahren, oder einen Kontrollbevollmächtigten für solche Fälle zu ermächtigen.

SPIEGEL: Gibt es eine unterschiedliche Auslegung von Verfügungen abhängig vom Geschlecht?

Putz: Das ist eine interessante Frage, zu der mir keine wissenschaftlichen Erhebungen bekannt sind. Dagegen kennt man etwa ein sogenanntes Nord-Süd-Gefälle oder den
Unterschied zwischen christlichen und nicht christlichen Einrichtungen, und ich erlebe, dass weibliche Entscheidungen per se weniger respektiert werden als männliche. Aber ob das
Auswirkungen auf die Patientenverfügung hat, weiß ich nicht. Was ich aber weiß: dass Frauen bei diesem Thema oft die treibenden Kräfte sind. Männer drücken sich vor Entscheidungen, wenn es um existenzielle Fragen geht.

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