02.02.2017

Die Zeit

Sinnlos gelitten


Ein Hausarzt wird verklagt, weil er einen Schwerstkranken zu lange am Leben hielt: Das Verfahren könnte den Alltag in deutschen Pflegeheimen verändern

Im Inneren eines filigranen Baus des bekannten Architekten Sep Ruf tagt die Arzthaftungskammer des Landgerichts München I. Der Vorsitzende Richter lässt die Vorhänge schließen, das muntere Licht des bayerischen Föhns wirkt wie ein Hohn angesichts der Leides jenes verstorbenen alten Mannes, dessen Schicksal hier verhandelt wird. Die Düsternis des Treppenhauses, in dem sich die Prozessbeteiligten in der Pause treffen, passt da besser. Alle beginnen gleichzeitig zu reden. »Ich lag auch schon mal im Koma«, mischt sich ein älterer Zuschauer ein, »was, wenn die Ärzte die Apparate damals abgestellt hätten?« ungeheuerliche Vorstellung – er wäre heute nicht mehr da. Auch der Beklagte diskutiert mit. Er ist Hausarzt in einem Münchner Vorort. Ihm wird vorgeworfen, einen schwer dementen Mann mit einer Magensonde am Leben erhalten und dadurch – in den letzten zwei Jahren – dessen Leiden über Gebühr verlängert zu haben. »Dann sagen Sie mir doch, wann der richtige Zeitpunkt ist, abzuschalten!«, faucht er. Sein Schnurrbart bebt vor Wut. Kläger ist der Sohn des Toten. Er fordert als Rechtsnachfolger und Erbe Schadensersatz für die aufgelaufenen Kosten der jahrelangen Behandlung und Schmerzensgeld für das in seinen Augen unerträgliche Lebensende des Vaters. Der Streitwert liegt bei 150 000 Euro, doch es geht um weit mehr: für Ärzte und Pfleger, falls sich durchsetzt, dass sie künftig mit Zivilklagen überzogen werden können, wenn sie den Sterbeprozess verzögern; für Patienten, wenn hier neue Standards für die letzte Lebensphase definiert werden sollten; für die Gesellschaft, weil hier der verdrängten Frage auf den Grund gegangen wird, wann der Tod einem qualvollen Siechtum, im Juristendeutsch wrongful life, vorzuziehen ist. Verhandelt wird dies alles am Schicksal des Heinrich S., das gewiss nicht repräsentativ, aber im Kern doch verallgemeinerbar ist: S., Jahrgang 1929, erkrankt im Alter von 66 Jahren an einer schweren Form von Demenz. Seine geschiedene Frau hat sich schon länger von ihm zurückgezogen, und auch der klagende Sohn, Heinz S., pflegt kein inniges Verhältnis zu dem ehemaligen Alkoholiker. Heute deutet der 57-jährige Sohn die schwierige Beziehung zum Vater so: » Er war durch seine Krankheit in der Persönlichkeit verändert.«

Die künstliche Ernährung durch Magensonden ist ein Milliardengeschäft

Am Tag, als der Vater seinen Dienst als Briefträger quittiert und in Ruhestand geht, zieht der Sohn um – von München nach North Carolina zu seiner neuen Liebe. Bei einem Besuch in der Heimat trifft er den Vater derart verwahrlost an, dass er ihn in einem Pflegeheim unterbringt. Vater S. bekommt einen gerichtlich bestellten Betreuer, der die Sorge für den Dementen übernehmen soll. Ein verwirrter Postbote, eine entfremdete Familie, eine anonyme Großstadt – die Geschichte könnte vom Münchner Schriftsteller Friedrich Ani stammen. Was für das ausufernde Leid des alten Mannes aber letztlich den Ausschlag gibt: Er hat keine Patientenverfügung und kein verlässliches Umfeld, das ihm beisteht. Wie so viele andere auch. Zwar interessieren sich die Deutschen für das Thema Patientenverfügung, doch nur etwa die Hälfte der über Sechzigjährigen hat eine. Angesichts hoher Scheidungsraten und verbreiteter Kinderlosigkeit könnten viele Deutsche irgendwann in die Lage des einsamen Postmanns geraten. Vor seiner Erkrankung ging Heinrich S. gern unter Leute und fotografierte viel. Die Art und Weise, wie er später sterben muss, ist nicht bloß trostlos, sie ist in den Worten des Pioniers der Palliativmedizin, Gian Domenico Borasio, »grausam«. Borasio beobachtet wie viele seiner Kollegen den Zivilprozess mit Spannung. Der wirft nämlich Fragen auf, die Ärzte, Pfleger und Patienten gleichermaßen tangieren. Die Höllenfahrt des S. im Zeitraffer: 1996 Demenzdiagnose, Depression, Inkontinenz und chronische Schmerzen. Seit 2003 verstummt, festgebunden, er will nicht essen, ist ängstlich und aufgeregt. 2006: er kann seine Lage nicht mehr erkennen. Die Muskulatur ist so angespannt, dass er nicht mehr »fixiert« werden muss. September 2006: Krankenhaus wegen Fieberschüben, rasselnder Lunge, Austrocknung. Da er nicht mehr isst, wird eine Ernährungssonde gelegt. Vier Tage später: Lungenentzündung. Der Patient ist mangelernährt, ausgezehrt, geistig weggetreten, ohne Muskelreflexe. Deshalb wird eine dauerhafte PEG-Magensonde verordnet. Die PEG-Sonde ist ein Schlauch, der durch die Bauchdecke in den Magen führt. Sie ermöglicht etwa Frühgeborenen, Intensivpatienten oder Menschen mit Schlundtumoren das Weiterleben. Sie wird aber auch vielen Pflegebedürftigen zwangsverordnet, die willentlich oder aus Versehen nicht mehr essen, bis zu hunderttausendmal im Jahr. Februar 2007: S. werden alle Zähne gezogen. Juni 2007: Lungenentzündung und Schluckbeschwerden. 2008: Heinrich S. liegt mit geöffnetem Mund im Liegerollstuhl. Kopf, Arme, Beine lassen sich auch von Dritten nicht mehr bewegen. Juni 2010: Krankenhaus. Die Lunge rasselt. Mehrere nekrotische Druckgeschwüre. Wird S. angesprochen, jammert er. Oktober 2011: Krankenhaus. Fieber, brodelnde Atmung. Heinrich S. stirbt am 19. Oktober 2011 im Alter von 72 Jahren – endlich, möchte man sagen. Sechs Jahre lang hing er am Schlauch. Fragen, ob ihm das recht sei, konnte man ihn nicht. Aber es gibt Gründe, anzunehmen, dass er es nicht gewollt hätte. Die PEG-Sonde löst Unruhezustände aus, verhindert aber nicht die gefürchteten Lungenentzündungen bei Bettlägerigen, nicht das Wundliegen, nicht einmal die Mangelernährung. Heinrich S. war trotz der Magensonde unterernährt und ausgetrocknet. Entsprechend schlecht ist der Ruf dieser Maßnahme. Der Studie eines amerikanischen Geriaters zufolge wollte nur ein Drittel der von ihm befragten Pflegeheimbewohner im Fall der Unfähigkeit zur Nahrungsaufnahme über eine Sonde ernährt werden. Zwei Drittel ziehen es vor, friedlich zu sterben
Trotzdem ist die Sonde Alltag in Pflegeheimen. Das hat Gründe. Ernährung ist Leben, die Vorstellung, jemanden verhungern zu lassen, ist grausam. Ernährung ist aber auch Gefühl. Essen etabliert eine tiefe Bindung, zunächst durch die Nabelschnur, dann an der Mutterbrust, dann an der Familientafel oder am Stammtisch. Claus Fussek kämpft seit 35 Jahren für die Würde in Pflegeheimen. Der 62-jährige Sozialpädagoge lässt, obwohl sich sein Schreibtisch unter den Akten über erbarmungswürdige Sondenträger biegt, keinen Zweifel aufkommen: »Die Drohung von Ärzten und Pflegern: ›Sie wollen Ihren Vater doch nicht verhungern lassen‹, ist ein schweres Geschütz.« So geschah es laut Heinz S. auch im Fall seines Vaters: Der Sohn drängte, als ihm der Zustand des Multimorbiden schrecklich erschien, auf das Entfernen der Sonde. Doch er konnte sich mit dem Rechtsbetreuer des Vaters nicht einigen und geriet in einen Rechtsstreit. Das Problem: Der Sterbeprozess des Vaters hatte noch nicht begonnen, der Patient war, so drückt es der Gutachter aus, »ein bedauernswerter Mensch, aber internistisch gesehen gesund«. Mediziner und Pfleger haben das Tun im Blick, nicht das Lassen. Außerdem müssen sie in Zeiten, da Kliniken und Heime um Patienten konkurrieren, auch Betten belegen. Claus Fussek, unermüdlicher Rufer in der deutschen Pflegewüste, weist darauf hin, dass Sonden ein Milliardengeschäft seien. In vielen Fällen dienten sie dem Interesse der Pfleger und nicht dem der Gepflegten. Bei der straffen Taktung in vielen Heimen sei eben nicht genügend Zeit, einen dementen Menschen in Ruhe zu füttern. Dem Rechtsanwalt Wolfgang Putz, der den klagenden Sohn vertritt, geht es in diesem Prozess aber nicht um die Verbesserung von Pflege und Palliativbehandlung, er zielt auf das Recht auf einen friedlichen Tod. Schon 2010 hat Putz eine zukunftsweisende Entscheidung des Bundesgerichtshofs erwirkt: Weil ein Pflegeheim eine Wachkomapatientin fünf Jahre lang gegen den Willen der Angehörigen per Sonde ernährte, hatte Putz der
Tochter der 77-Jährigen geraten, den Schlauch durchzuschneiden. Dafür verurteilte das Landgericht Fulda den Rechtsanwalt zu neun Monaten auf Bewährung und 20 000 Euro Strafe. Der Staatsanwalt hielt ihm vor, sich zum »Herrn über Leben und Tod« aufzuspielen. Doch der BGH sah es anders und sprach Putz frei: Wer mit aller Medizin für das Leben kämpfe, auch wenn der Kampf aussichtslos sei und das Patientenwohl dem entgegenstehe, mache sich ebenfalls zum Herrn über Leben und Tod. Den eingeschlagenen Weg will Putz weiterbeschreiten. »Ärzte dürfen sich nicht über den Willen des Patienten hinwegsetzen, auch nicht, wenn sich Angehörige für lebensverlängernde Maßnahmen einsetzen – dies wurde mehrfach gerichtlich bestätigt. Die Frage ist nun, welche Umstände den Abbruch einer Behandlung unabhängig vom Patientenwillen gebieten.«
Eine medizinische Therapie muss auf zwei Säulen ruhen: Sie muss fachlich sinnvoll sein (Ärzte sprechen von »indizierter« Therapie) und dem Patientenwillen entsprechen. Auch der Gerichtsgutachter bestätigt in München, der Krankheitsverlauf des Heinrich S. sei »infaust« gewesen, also ohne jede Aussicht auf Heilung. Die Magensonde sei daher – zumindest in den letzten 18 Monaten – nicht mehr indiziert gewesen. In diesem Punkt werden sich die beiden Parteien einig. Aber hätte der Arzt die Sonde deshalb entfernen müssen? Die entscheidende Frage ist die nach dem Patientenwillen. Hat ein Patient keine Verfügung erlassen, muss mit seinen Fürsprechern, der Familie oder dem Bevollmächtigten, abgewogen werden, wie er bei seriöser Aufklärung wohl selbst entschieden hätte. Und an diesem Punkt scheiden sich die Geister. »Wir wünschen uns so etwas alle nicht«, gesteht der Münchner Vorsitzende Richter Peter Lemmers dem Kläger zu, doch könne eben niemand die Wahrnehmung eines Patienten kennen und wissen, was Heinrich S. wirklich gewollt hätte. Leiden sei subjektiv. Der Gerichtsgutachter sieht das genauso: Viele Patienten zeigten trotz extremen Leidens auch extremen Lebenswillen. Der Kläger hält dagegen. Eine Magensonde gegen den Patientenwillen zu legen sei Körperverletzung. Sie verstoße gegen das Persönlichkeitsrecht, die Selbstbestimmung und die Integrität des Hilflosen. Wo kein Wille ermittelbar ist, muss man sich an die Wertvorstellungen einer Gesellschaft halten. »Ungefähr seit der Jahrtausendwende wird die früher allgemein akzeptierte gesellschaftliche Grundhaltung, dass Leben um jeden Preis erhalten werden müsse, in Gerichtsurteilen immer wieder eingeschränkt«, sagt der Fachmann Borasio. Ein Leben muss würdig und friedlich enden dürfen. Neben entsprechenden Gerichtsurteilen weise noch etwas auf einen Wertewandel hin: Die allermeisten Patientenverfügungen treffen »negative« Regelungen. Sie halten fest, welche Interventionen sich die Menschen am Ende des Lebens nicht wünschen. Die meisten betrachten also nicht nur das Leben an sich, sondern auch die Qualität des Lebens als Wert. Deshalb hätte sich wohl auch Heinrich S. gegen eine Dauerernährung entschieden.

Lebensverlängerung um jeden Preis oder »liebevolles Unterlassen«?

Doch schleicht sich nicht durch die Hintertür die Frage ein, welches Leben lebenswert ist? Bevor das böse Wort » Euthanasie« fällt, erklärt der Palliativmediziner, in seiner Disziplin sei es Standard, den Menschen Leiden im ganzheitlichen Sinne zu er – sparen, nicht nur Schmerzen, sondern »total pain«. Der Begriff geht auf die Begründerin der Palliativmedizin, Cicely Saunders, zurück und umfasst die verschiedenen Nöte eines Sterbenden: Einsamkeit, Verstummen, Sinnleere, existenzielle Angst. All diese Aspekte seien zu berücksichtigen. Kann das ein Hausarzt? In dieser Frage lassen sich die Positionen nicht versöhnen. Richter Lemmers und der Gerichtsgutachter bezweifeln, dass der behandelnde Hausarzt allein habe entscheiden können (oder dürfen), wann es genug war für Heinrich S. Auf der anderen Seite stehen die klagende Partei, aber auch Palliativmediziner wie Borasio und Pflegeexperten wie Fussek. Früher sprach man in diesem Zusammenhang von »passiver Sterbehilfe«. Der BGH selbst hat den Begriff inzwischen durch den ebenfalls negativ besetzten des »Behandlungsabbruchs« ersetzt. »Dabei bricht ein Arzt nie die Behandlung ab«, sagt Borasio. »Aber für jeden Patienten und auch für uns selbst kommt irgendwann im Leben ein Punkt, an dem das Therapieziel der Lebensverlängerung keinen Sinn mehr macht. Die logische Folge ist eine Änderung des Therapieziels zugunsten der Lebensqualität bis zum Ende, also eine palliativmedizinische Haltung. Diese kann sehr wohl aktive und sogar invasive Eingriffe zur Folge haben, sofern sie zum Erreichen des Therapieziels – Lebensqualität und Leidenslinderung – notwendig sind. Sie sehen, wir sind hier meilenweit von jeder Euthanasiedebatte entfernt.« Borasio nennt es »liebevolles Unterlassen«. Auch das erfordere Mut. Der Vorsitzende Richter Michael Lemmers sucht den Kompromiss. Seine Kammer weist den Anspruch des Klägers auf Schmerzensgeld und Haftung ab ( a Z 9 O 5246/14). Zwar habe für die künstliche Ernährung keine Indikation mehr vorgelegen, zwar habe der Arzt die Angehörigen über die Verlängerung des Leidens zu informieren und deren Einschätzung des Krankenwillens einzuholen – dass der Hausarzt dies versäumte, sei ein ärztlicher Behandlungsfehler –, aber der Kläger habe nicht nachweisen können, dass sich sein Vater gegen die Sondenernährung entschieden hätte. Damit öffnet sich die Tür für künftige Haftungsklagen bei unterlassener Aufklärung über sinnloses Leid. Rechtsanwalt Putz betrachtet das Urteil als »Meilenstein«, habe das Gericht doch erstmals in der deutschen Medizinrechtsgeschichte die künstliche Lebensverlängerung per Magensonde bei Schwerstkranken ohne Therapieaussichten als nicht indiziert beurteilt und gefordert, dass über die Magensonde laufend neu entschieden werden müsse. Der Kläger will nun versuchen, in der nächsten Instanz vor dem Bundesgerichtshof diese Tür noch ein Stück weiter aufzustoßen.


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