Das „Sterbehilfeurteil“ des Bundesverfassungsgerichts – § 217 StGB: guter Zweck, falscher Weg
Das Recht auf ein selbst bestimmtes Sterben
Das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für verfassungswidrig erklärt. Die Autorin des folgenden Fachartikels vertrat gemeinsam mit Rechtsanwalt Wolfgang Putz die Verfassungsbeschwerden dreier Ärzte und fasst die zentralen Aussagen des Gerichts mit Blick auf die Praxis zusammen.
Von Tanja Unger
Karlsruhe // In seinem historischen Urteil hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für verfassungswidrig erklärt und die Strafnorm mit sofortiger Wirkung aufgehoben. Aber das Gericht hat noch viel mehr getan, um den Schutz der Würde und des Selbstbestimmungsrechts in richtige Bahnen zu lenken. Leider ist selten ein Urteil in der Öffentlichkeit derart missverstanden und zu Unrecht kritisiert worden.
1. Die Ausgangslage: Gegen das Sterbehilfeverbot des § 217 StGB klagten unter anderem Sterbehilfevereine, Schwerkranke, die ihr Leben mit Hilfe eines solchen Vereins beenden möchten, und Ärzte, die sich in der ambulanten oder stationären Patientenversorgung Strafbarkeitsrisiken ausgesetzt sahen. Mit ihren Verfassungsbeschwerden rügten sie die Verletzung ihrer jeweiligen Grundrechte und bekamen Recht.
2. Wesentliche Erwägungen des Urteils: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 mit Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht ist nicht nur ein Abwehrrecht, z.B. gegen lebenserhaltende Maßnahmen, sondern schließt auch die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und, soweit angeboten, in Anspruch zu nehmen.
//Eine Verpflichtung zur Suizidhilfe gibt es auch künftig nicht.
Nur unmöglich machen darf sie der Staat nicht.//
Rechtsanwältin Tanja Unger
„Die in Wahrnehmung dieses Rechts getroffene Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren“. Die Entscheidung entzieht sich einer staatlichen Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben gilt uneingeschränkt für alle Lebenssituationen und ist nicht auf fremddefinierte Situationen wie schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens-und Krankheitsphasen beschränkt. Es gilt also nichts anderes als bei Patientenverfügungen, bei denen das Patientenverfügungsgesetz in § 1901a Abs. 3 BGB gewährleistet, dass jeder in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts Behandlungsverbote ohne Rücksicht auf Art oder Stadium einer Erkrankung festlegen kann. Das Bundesverwaltungsgericht hatte 2017 den Zugang zu suizidtauglichen Betäubungsmitteln dagegen von derartigen Kriterien abhängig gemacht. Dieses Urteil und das Betäubungsmittelrecht stehen dem -nächst auf dem Prüfstand des Verfassungsgerichts. Das Verbot des § 217 StGB stellt einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen dar. Deshalb ist es verfassungswidrig und musste für nichtig erklärt werden: Zwar, so das Gericht, verfolgte der Gesetzgeber mit § 217 StGB den legitimen Zweck, die Selbstbestimmung des Einzelnen über sein Leben und hierdurch das Leben als solches zu schützen. Die Einschätzung des Gesetzgebers, dass die bisherige Praxis geschäftsmäßiger Suizidhilfe nicht geeignet war, die Selbstbestimmung in jedem Fall zu wahren, sei vertretbar. Es erkennt auch zu, dass die meisten suizidwilligen Menschen Lebensschutz und nicht Unterstützung beim Suizid brauchen, weil ihr Wunsch nicht auf einer vom Grundgesetz geschützten freiverantwortlichen, wohlerwogenen und ernstlichen Entscheidung beruht. Auch unter Würdigung all dieser Umstände ist die von der Vorschrift ausgehende Einschränkung der Grundrechte jedoch zu weitgehend. Der Einsatz des Strafrechts zum Schutz der autonomen Entscheidung des Einzelnen über die Beendigung seines Lebens findet seine Grenze dort, wo die freie Entscheidung nicht mehr geschützt, sondern unmöglich gemacht wird. § 217 StGB richtete sich zwar nur gegen geschäftsmäßiges Handeln. Doch die verbleibenden Optionen bieten laut Urteil nur eine theoretische, nicht aber tatsächliche Aussicht auf Selbstbestimmung am Lebensende, das Grundrecht werde faktisch weitgehend entleert. Genau das verbietet aber die Verfassung. Der Zweck heiligt nicht alle Mittel, schon gar keine verfassungswidrigen! Schon in der mündlichen Verhandlung im April 2019 stellten die Richter daher an den Gesetzgeber gerichtet klar: „Sie haben Grundrechte nicht zu dulden, sondern zu gewähren!“ Der Gesetzgeber darf und soll Suizidprävention betreiben und krankheitsbedingten Selbsttötungswünschen durch Ausbau palliativmedizinischer Angebote entgegenwirken. Dem Einzelnen muss aber die Freiheit verbleiben, auf die Erhaltung des Lebens zielende Angebote auszuschlagen und seine freie Entscheidung, das eigene Leben mit Hilfe Dritter zu beenden, im Inland umzusetzen. Mit dem Recht auf Selbsttötung korrespondiert daher auch ein entsprechend weitreichender grundrechtlicher Schutz des Handelns von Suizidassistenten. Ohne geschäftsmäßige Angebote der Suizidhilfe, so das Gericht, sei der Einzelne maßgeblich auf die individuelle Bereitschaft von Ärzten angewiesen, an einer Selbsttötung assistierend mitzuwirken. Kein Arzt – dies wird mehrfach betont – ist hierzu verpflichtet! Aktuell steht in Teilen Deutschlands der Bereitschaft von Ärzten, freiverantwortlichen und wohlerwogenen Sterbewilligen, Suizidhilfe zu leisten, jedoch auch noch das Berufsrecht entgegen. Es gehe aber nicht an, so das BVerfG, dass Menschen, die von ihrem Grundrecht auf Suizid Gebrauch machen wollen, erst einmal Ärzte finden müssen, die mutig genug sind, sich unter Berufung auf ihre eigene, verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit über dieses berufsrechtliche Verbot hinwegzusetzen. Klarer hätte das BVerfG den Handlungsauftrag an die betreffenden Landesärztekammern nicht formulieren können. Das Standesrecht hat die Vorgaben des Verfassungsrechts umzusetzen.
3. Resümee und Blick auf die Praxis:
Zum Schutz der Selbstbestimmung über das eigene Leben steht dem Gesetzgeber auch nach dem Urteil in Bezug auf organisierte Suizidhilfe ein breites Spektrum an Möglichkeiten offen. Eine Verpflichtung zur Suizidhilfe gibt es auch künftig nicht. Nur unmöglich machen darf sie der Staat nicht. Also: alles auf Anfang! Die Politik muss nun neue, verfassungskonforme Wege suchen, um zu verhindern, dass unseriöse, leicht fertige Suizidhilfeangebote das Leben von schwachen, hilfebedürftigen Menschen in elementaren Entscheidungskonflikten gefährden. Weiterhin ist jeder Suizidwunsch ernst zu nehmen. Es muss offen darüber gesprochen werden! Ist der Wunsch freiverantwortlich, wohlerwogen und nachhaltig und damit Ausdruck des grundrechtlichen Selbstbestimmungsrechts, darf – wie vor Einführung des § 217 StGB – Unterstützung bei der Umsetzung geleistet oder vermittelt werden. Ein freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit darf genauso begleitet werden wie ein Suizid durch aktives Handeln gegen das eigene Leben.
Die Autorin ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Medizinrecht in der Kanzlei für Medizinrecht Putz-Sessel-Steldinger in München: putz-medizinrecht.de