06.07.2016

Süddeutsche Zeitung

Wenn Kinder lieb und teuer sind


Ein Paar bekommt ungewollt Zwillinge und wird so zur sechsköpfigen Familie – nun muss der Gynäkologe 90000 Euro Schadenersatz zahlen

Eine ungewöhnliche Verhütungspanne hat bei Münchner Eltern zu einem Zwillingspärchen geführt. Dafür muss der Hausgynäkologe nun 90 000 Euro Schadenersatz bezahlen. Die Eltern, die bereits zwei Kinder hatten, sehen den ungeplanten Nachwuchs zwar als glückliche Bereicherung, mussten ihr Leben aber massiv umkrempeln. Der Frauenarzt ließ sich nun vor dem Landgericht München I auf eine Kompromisslösung ein: Da er nicht beweisen konnte, ein Hormonstäbchen zur Langzeitverhütung korrekt implantiert zu haben, erklärte er sich freiwillig zur Zahlung bereit. Zwei liebe Kinder, eine schöne Dachwohnung und ein akzeptables Einkommen – dazu zwei Autos, wenn auch nicht mehr ganz taufrisch. Für ein Münchner Ehepaar war die Welt 2011 in Ordnung. Weil die Eheleute die Familienplanung mit zwei damals drei und fünf Jahre alten Sprösslingen als abgeschlossen betrachteten, ging die 32-jährige Frau zu ihrem Gynäkologen. Der riet ihr zu einem „Implanon“ Hormonstäbchen. Dieses Verhütungsmittel wirkt ähnlich wie die Pille, muss aber nicht täglich eingenommen werden: Ein Kunststoffstäbchen, indem sich der Wirkstoff Etonogestrel befindet, wird mit einer Spritze im Oberarm unter der Haut platziert, wo es gleichmäßig Hormone freisetzt. Bald darauf fühlte sich die Frau seltsam schlapp und litt unter Schwindelgefühlen. Der Arzt führte das bei mehreren Telefonaten auf die Hormonwirkung zurück. Vier Monate später stellte der Doktor eine Zwillingsschwangerschaft fest. Wie das passieren konnte, wird für immer ein Rätsel bleiben. Untersuchungen ergaben, dass das Hormonstäbchen unauffindbar war. Auch der Wirkstoff war im Blut nicht nachweisbar. Im August 2012 kamen durch Kaiserschnitt ein Bub und ein Mädchen zur Welt. Die Eltern hatten bis dahin in einer aus zwei kleineren Wohnungen zusammengelegten 160 Quadratmeter großen Dachwohnung gelebt. Beide Eheleute waren voll berufstätig und teilten sich auch den Haushalt. All das war nun nicht mehr möglich: Die Wohnung musste wieder zurückgebaut und eine neue gesucht werden, zumal der Weg für die nunmehr sechs Personen unters Dach im dritten Stock ohne Lift zu beschwerlich war. Die Frau musste beruflich pausieren, ein 20 Jahre alter Mercedes wurde schweren Herzens verkauft und ein praktischer Koreaner angeschafft. Die Eltern warfen nun dem Arzt vor, das Implanon-Stäbchen nicht korrekt eingesetzt zu haben. Möglicherweise wurde es beim Zurückziehen der Kanüle wieder entfernt. Vor Gericht betonte Rechtsanwältin Beate Steldinger immer wieder, dass die Eltern mit den beiden weiteren Kindern keineswegs unglücklich sind: „Sie erfreuen sich vielmehr jeden Tag an ihren nunmehr vier Kindern – eine sechsköpfige Familie entsprach jedoch nicht deren Lebensplanung, die sie mit der sichersten zur Verfügung stehenden Verhütungsmethode umsetzen wollten.“ Ein vom Gericht beauftragter Sachverständiger aus Kiel sah zunächst keinen Behandlungsfehler. Die Klägeranwältin beauftragte daraufhin einen Experten aus Freiburg mit einem weiteren Gutachten. Dieser Professor sagte, dass ein Produktfehler auszuschließen sei – genauso wie ein unbemerktes Herausfallen des Stäbchens oder ein Abtransport durch die Blutgefäße. Es sei davon auszugehen, dass es tatsächlich vom Gynäkologen gar nicht eingebracht wurde und somit ein fehlerhaftes Vorgehen des Arztes vorliege. Die 9. Zivilkammer stellte daraufhin fest: „Das Geschehen ist rätselhaft.“ Es spreche tatsächlich einiges dafür, dass dem Arzt ein Fehler passiert sei. Deshalb sei dieser nun in der Pflicht, das Gegenteil zu beweisen. Da dies aber nahezu unmöglich sein dürfte, regte das Gericht zunächst die Zahlung von rund 60 000 Euro an. Das lehnte die Anwältin als zu wenig ab. „Eine Abtreibung oder eine Abgabe der Kinder zur Adoption wäre für die Eltern niemals in Betracht gekommen“, erklärte Anwältin Steldinger. „Dennoch führte hier ein fehlerhaftes Vorgehen des Gynäkologen zu einer ungewollten Schwangerschaft, die zweifellos zu einer finanziellen Mehrbelastung der Familie geführt hat. Nicht die Kinder sind der Schaden, sondern die Mehrbelastung der Familie. “ Schließlich einigte man sich auf 90 000 Euro. Die Eheleute, die keine Rechtsschutzversicherung haben, hatten für ihre Klage Rückendeckung durch eine Prozessfinanzierungsgesellschaft suchen müssen. Denn solche Arzthaftungsverfahren sind oft mit einem erheblichen Kostenrisiko verbunden. In diesem Fall hätten die klagenden Eheleute das finanzielle Risiko von rund 20000 Euro alleine nicht auf sich genommen. Allerdings wird der Finanzierer nun einen Teil des Geldes bekommen – den Eltern werden unter dem Strich etwa die vom Gericht ursprünglich vorgeschlagenen 60 000 Euro bleiben.
Ekkehard Müller-Jentsch


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