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Kaum eine Ernährungsmethode ist mit so vielen Diskussionen behaftet wie die Sondenernährung – zumal sie meist erst im letzten Lebensstadium eines Bewohners eingesetzt wird. Für Pflegende stellen sich hier eine ganze Reihe von Fragen, die nicht nur ethische, sondern auch juristische Bedeutung haben. Der Münchner Rechtsanwalt Wolfgang Putz, Autor unter anderem des Buches „Sterben dürfen“ klärt für VERPFLEGEN hier die wichtigsten von ihnen

Ernährung durch eine Sonde stellt für jeden Bewohner einer Senioreneinrichtung einen tiefen Einschnitt dar. Es gibt kaum eine andere so riesige Konsequenz ins Leben eines Pflegebedürftigen als eine Sonde zur Ernährung. Das aus gleich mehreren Gründen.

  • Erstens fällt durch das Setzen der Sonde en des Regel eine sehr wichtige Komponente des Lebens im Alter, nämlich der soziale Kontakt beim Essen weg.
  • Zweitens fällt alles Genussvolle weg, die Lebenssituation verändert sich fundamental. Auch soziale Interaktionen wie das Essen Anreichen, ein liebevolles Kümmern, Aufmerksamkeit, Zuwendung entfällt.
  • Drittens bedeutet die Sonde den Komplettverlust des Genusses von Essen und Trinken: „Meinen Vater ohne Essen und Trinken können sie komplett vergessen“ – diese Wertung einer Angehörigen muss man subjektiv sehr ernst nehmen, weil sie aus Erfahrung darstellt, wie der Patient einen solchen Einschnitt gewertet hatte

Grundsätzlich eine medizinische Entscheidung
Wer trifft nun in der Praxis die Entscheidung, ob eine PEG-Sonde gelegt wird oder nicht? Die künstliche Ernährung über jegliche Art von Magensonde ist immer eine medizinische Behandlung – damit entscheidet letztendlich der Arzt. Jedoch geht auch das nicht willkürlich. Zuerst muss der Arzt die Kriterien der medizinischen Indikation bejahen, die sogenannte Indikationsstellung Ist die PEG-Sonde nicht indiziert, darf er sie nicht setzen. Entscheidend ist als zweites, den Patientenwillen zu ermitteln. Wenn der Patientenwille der an sich indizierten Sonde entgegensteht, darf sie ebenfalls nicht gesetzt werden. Dennoch behält der Arzt bei dieser Entscheidung eine wichtige Rolle. Erst muss er die Indikation stellen. Sodann hat er eine besondere Rolle als Berater gegenüber den Entscheidungsträgern. Er muss sie über alle Vor- und Nachteile, aber auch über alle Punkte beraten: z.B. über Versorgungsprobleme, Erbrechen usw. Es gibt eine Menge Aufklärungspflichten, die aber in der Regel nicht eingehalten werden. Wenn der Patient zu einer solchen Entscheidung nicht mehr selbst in der Lage ist, darf oder muss ein Angehöriger stellvertretend eine Entscheidung treffen.

Der Angehörige muss richtig legitimiert sein
Dieser Angehörige aber muss dazu legitimiert sein. Denn nur der gesetzlich legitimierte Vertreter des Patienten – ausgewiesen durch eine Vollmacht oder als vom Betreuungsgericht eingesetzter rechtlicher Betreuer – darf hier entscheiden. Ein solchermaßen legitimierter Vertreter kann sagen, ob die angedachte Entscheidung dem Willen des Patienten entspricht oder nicht. Diesem Willen muss er Ausdruck und Geltung verschaffen. Das heißt er muss ihn mit allen rechtlich zur Verfügung stehenden Mitteln durchsetzen. Bei dieser Entscheidung spielen also ethische oder moralische Forderungen, die zum Setzen einer Sonde gegen den Willen des Patienten führen können, keine Rolle.

Der Wille des Patienten steht im Mittelpunkt
Denn Ethik und Moral gebieten, den Patientenwillen auf jeden Fall zu respektieren. Es gibt keine ethisch-moralische Legitimation sich über den Patientenwillen hinwegzusetzen. Ich kann also nicht einfach argumentieren, eine Sonde nicht zu setzen sei ethisch unmoralisch, weil der Patient nicht verhungern und verdursten darf – das geht ausdrücklich nicht! Patient und Angehörige als rechtliche Vertreter des Patienten und Arzt treffen eine Entscheidung – und das Pflegepersonal muss sie umsetzen. Das Personal im Heim ist stets an die ärztliche  Anweisung und Vorgaben gebunden. Es  kümmert sich um die delegierte ärztliche  Behandlung – die sogenannte Behandlungspflege. Deshalb reden Pflegekräfte auch nicht  mit, wenn die Frage entschieden werden  muss, ob eine Sonde gelegt werden soll oder  nicht. Darüber entscheidet allein der Arzt. Eine  denkbare Ausnahme wäre: Eine Pflegerin weiß  als Zeugin, was der Patient einmal zur Frage  der künstlichen Lebensverlängerung gesagt  hat – also rein faktische Dinge in einer  möglichen Rolle als Zeugin.

Eine schwierige Situation für  Pflegende!
Leider funktioniert diese Trennung der  Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten so  in der Praxis nicht immer. Im Alltag der  Einrichtung bringt sich die Pflege manchmal  immer noch ein. Die künstliche Ernährung mit  der Sonde hat aber eben nicht mit Essen und  Trinken in der Pflege zu tun. Eine Sonde ersetzt nur Essen und Trinken. So wenig wie das nicht-ärztliche Personal über die künstliche  Niere entscheidet, so wenig hat es über die  Sondenernährung zu entscheiden. Deshalb kann auch eine Sonde nicht gegen  den Willen des Patienten, wie er vom Betreuer  oder vom Bevollmächtigten übermittelt wird,  gelegt werden. Entscheidend ist immer nur der Wille des  Patienten, nicht der des Arztes, der Angehörigen oder der Pflegekräfte. Eine Sondenernäh – rung gegen den Patientenwillen ist strafbar. Das Pflegepersonal muss den Willen des  Patienten unbedingt beachten, um sich nicht  strafbar zu machen. Wer eigenmächtig und  gegen den Willen des Patienten künstlich  ernährt, begeht eine Körperverletzung oder  – etwa bei Komplikationen – sogar eine  Tötung. Beides ist immer strafbar.

Das Gericht spricht stets ein  Wort mit
Eine gerichtliche Entscheidung muss in  Ausnahmefällen über den vorgelegten Willen  des Patienten getroffen werden, und zwar nur  dann, wenn der Arzt den Willen des Patienten,  wie er von den Verwandten vorgetragen wird,  nicht glaubt, oder er den Verdacht hegt, die  Patientenverfügung könne gefälscht sein.  Wenn der Arzt sagt, „Ich glaube nicht, was  man mir erzählt oder was man mir an  Dokumenten vorlegt“ – dann ist das Gericht  gefragt. Übrigens beschäftigen sich die häufigsten  rechtlichen Fragen in Bezug auf das Legen  einer PEG-Sonde mit dem Nicht-Legen oder  Entfernen der Sonde – ist das ein Tötungsdelikt? Der BGH stellte am 25. Juni 2010 klar: Es  ist keine strafbare Sterbehilfe, wenn man  dem Willen des Patienten folgt. Ganz im  Gegenteil: Das Sterben durch die Sonde zu  verlängern, ist häufig bereits kontraindiziert  und damit als Körperverletzung strafbar. Das  passt auch zu den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung seit 1998:  „Lebenserhaltungspflicht nur innerhalb der  Grenzen des Patientenwillens“

Darf man einen Menschen  verhungern lassen?
Offensichtlich aber gibt es gerade bei diesen  Fragen immer noch eine Menge falscher  Vorstellungen – nicht nur in der ethischen  Frage sondern auch über die tatsächlichen  Vorgänge im Körper eines Sterbenden. Die  Vorstellung, bei Beenden der künstlichen  Ernährung drohe ein grausamer Tod, ist  falsch. Es kommt vielmehr zu einer terminalen  Urämie. Der Patient wird müde, schläft ein,  fällt in Ohnmacht, in ein tiefes Koma und  verstirbt ohne Empfinden von Leid in tiefster  Bewusstlosigkeit. Der Patient stirbt, wie es  sich jeder wünscht: „Ich möchte nicht leiden  und einfach hinüberschlafen!“ Ein Standardfall ist etwa der Demenzkranke,  der meist schon nicht mehr ausreichend isst  und immer weniger trinkt. Da beginnt das  natürliche Sterben bei Demenz. Wenn Sie  einen solchen Patienten mit Wasser vollpumpen, retten Sie am Gehirnabbau trotzdem  nichts. Heute ist es aus medizinischer Sicht  der Goldstandard, bei Demenz in der Regel  nicht mehr auf eine künstliche Ernährung mit  Hilfe einer Sonde überzugehen.  Grundsätzlich bleibt als Fazit festzuhalten:  Natürlich ist es in jedem einzelnen Fall der  Erwägung einer künstlichen Ernährung zuerst  immer eine ärztliche Entscheidung nach  strenger Indikationsstellung für den Bewohner. Und immer muss der Wille des Patienten  beachtet werden. Deshalb sollte bei der  Palliativ-Pflege über jedem Bett stehen: Des  Menschen Wille ist sein Himmelreich!

Ein besonderer Fall: Sondenernährung bei Demenz
Bei Bewohnern mit fortgeschrittener Demenz,  die zu einer oralen Nahrungsaufnahme nicht  mehr fähig sind, erfolgt in Einrichtungen oft  die Versorgung mit einem durch die Bauchdecke in den Magen eingeführten Schlauch (so genannte PEG-Sonde) zur künstlichen Ernährung von Bewohnern, so eine Feststellung von  Prof. Gian Domenico Borasio anlässlich der  Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss  des Bundestags am 04.03.2009. Alle vorhandenen Studien haben keine  Hinweise dafür ergeben, dass die mit dieser  Maßnahme angestrebten Therapieziele  erreicht werden können. Es zeigen sich keine dung. Daher wurde schon vor Jahren von Experten ausgesprochen: „Dieses Missverhältnis zwischen Vorteilen und Nachteilen der  künstlichen Ernährung begründet die Empfehlung, dass künstliche Ernährung bei Patienten  mit fortgeschrittener Demenz nicht angewen- Dort heißt es weiter, dass alle vorhandenen  Studien keinen Hinweis dafür ergeben hätten,  dass die mit dieser Maßnahme angestrebten  Therapieziele erreicht worden seien. Es zeigten  sich, so der Palliativmediziner aus Lausanne weiter, keine Unterschiede hinsichtlich  Lebensverlängerung, Verbesserung des  Ernährungsstatus, Verbesserung der Lebensqualität, Verbesserung der Wundheilung oder  Verringerung der Aspirationsgefahr. Letztere  sei sogar bei Patienten mit PEG-Sonde leicht,  aber signifikant erhöht. Die PEG-Sonde habe  außerdem schwere potentielle Nebenwirkungen, wie lokale und systemische Entzündungen, Verlust der Freude am Essen und  Verringerung der pflegerischen Zuwendung.  Daher wurde schon vor Jahren von Experten  festgestellt: Dieses Missverhältnis zwischen  Vorteilen und Nachteilen der künstlichen  Ernährung sei Grund genug für eine Empfehlung, dass künstliche Ernährung bei Patienten  mit fortgeschrittener Demenz nicht angewendet werden sollte. Das Fazit des Sachverständigen: „Es fehlt für diese Maßnahme in  dieser Patientengruppe schlicht die medizinische Indikation – trotzdem wird sie über  100.000 Mal jährlich in Deutschland durchgeführt.“

Ein Paar bekommt ungewollt Zwillinge und wird so zur sechsköpfigen Familie – nun muss der Gynäkologe 90000 Euro Schadenersatz zahlen

Eine ungewöhnliche Verhütungspanne hat bei Münchner Eltern zu einem Zwillingspärchen geführt. Dafür muss der Hausgynäkologe nun 90 000 Euro Schadenersatz bezahlen. Die Eltern, die bereits zwei Kinder hatten, sehen den ungeplanten Nachwuchs zwar als glückliche Bereicherung, mussten ihr Leben aber massiv umkrempeln. Der Frauenarzt ließ sich nun vor dem Landgericht München I auf eine Kompromisslösung ein: Da er nicht beweisen konnte, ein Hormonstäbchen zur Langzeitverhütung korrekt implantiert zu haben, erklärte er sich freiwillig zur Zahlung bereit. Zwei liebe Kinder, eine schöne Dachwohnung und ein akzeptables Einkommen – dazu zwei Autos, wenn auch nicht mehr ganz taufrisch. Für ein Münchner Ehepaar war die Welt 2011 in Ordnung. Weil die Eheleute die Familienplanung mit zwei damals drei und fünf Jahre alten Sprösslingen als abgeschlossen betrachteten, ging die 32-jährige Frau zu ihrem Gynäkologen. Der riet ihr zu einem „Implanon“ Hormonstäbchen. Dieses Verhütungsmittel wirkt ähnlich wie die Pille, muss aber nicht täglich eingenommen werden: Ein Kunststoffstäbchen, indem sich der Wirkstoff Etonogestrel befindet, wird mit einer Spritze im Oberarm unter der Haut platziert, wo es gleichmäßig Hormone freisetzt. Bald darauf fühlte sich die Frau seltsam schlapp und litt unter Schwindelgefühlen. Der Arzt führte das bei mehreren Telefonaten auf die Hormonwirkung zurück. Vier Monate später stellte der Doktor eine Zwillingsschwangerschaft fest. Wie das passieren konnte, wird für immer ein Rätsel bleiben. Untersuchungen ergaben, dass das Hormonstäbchen unauffindbar war. Auch der Wirkstoff war im Blut nicht nachweisbar. Im August 2012 kamen durch Kaiserschnitt ein Bub und ein Mädchen zur Welt. Die Eltern hatten bis dahin in einer aus zwei kleineren Wohnungen zusammengelegten 160 Quadratmeter großen Dachwohnung gelebt. Beide Eheleute waren voll berufstätig und teilten sich auch den Haushalt. All das war nun nicht mehr möglich: Die Wohnung musste wieder zurückgebaut und eine neue gesucht werden, zumal der Weg für die nunmehr sechs Personen unters Dach im dritten Stock ohne Lift zu beschwerlich war. Die Frau musste beruflich pausieren, ein 20 Jahre alter Mercedes wurde schweren Herzens verkauft und ein praktischer Koreaner angeschafft. Die Eltern warfen nun dem Arzt vor, das Implanon-Stäbchen nicht korrekt eingesetzt zu haben. Möglicherweise wurde es beim Zurückziehen der Kanüle wieder entfernt. Vor Gericht betonte Rechtsanwältin Beate Steldinger immer wieder, dass die Eltern mit den beiden weiteren Kindern keineswegs unglücklich sind: „Sie erfreuen sich vielmehr jeden Tag an ihren nunmehr vier Kindern – eine sechsköpfige Familie entsprach jedoch nicht deren Lebensplanung, die sie mit der sichersten zur Verfügung stehenden Verhütungsmethode umsetzen wollten.“ Ein vom Gericht beauftragter Sachverständiger aus Kiel sah zunächst keinen Behandlungsfehler. Die Klägeranwältin beauftragte daraufhin einen Experten aus Freiburg mit einem weiteren Gutachten. Dieser Professor sagte, dass ein Produktfehler auszuschließen sei – genauso wie ein unbemerktes Herausfallen des Stäbchens oder ein Abtransport durch die Blutgefäße. Es sei davon auszugehen, dass es tatsächlich vom Gynäkologen gar nicht eingebracht wurde und somit ein fehlerhaftes Vorgehen des Arztes vorliege. Die 9. Zivilkammer stellte daraufhin fest: „Das Geschehen ist rätselhaft.“ Es spreche tatsächlich einiges dafür, dass dem Arzt ein Fehler passiert sei. Deshalb sei dieser nun in der Pflicht, das Gegenteil zu beweisen. Da dies aber nahezu unmöglich sein dürfte, regte das Gericht zunächst die Zahlung von rund 60 000 Euro an. Das lehnte die Anwältin als zu wenig ab. „Eine Abtreibung oder eine Abgabe der Kinder zur Adoption wäre für die Eltern niemals in Betracht gekommen“, erklärte Anwältin Steldinger. „Dennoch führte hier ein fehlerhaftes Vorgehen des Gynäkologen zu einer ungewollten Schwangerschaft, die zweifellos zu einer finanziellen Mehrbelastung der Familie geführt hat. Nicht die Kinder sind der Schaden, sondern die Mehrbelastung der Familie. “ Schließlich einigte man sich auf 90 000 Euro. Die Eheleute, die keine Rechtsschutzversicherung haben, hatten für ihre Klage Rückendeckung durch eine Prozessfinanzierungsgesellschaft suchen müssen. Denn solche Arzthaftungsverfahren sind oft mit einem erheblichen Kostenrisiko verbunden. In diesem Fall hätten die klagenden Eheleute das finanzielle Risiko von rund 20000 Euro alleine nicht auf sich genommen. Allerdings wird der Finanzierer nun einen Teil des Geldes bekommen – den Eltern werden unter dem Strich etwa die vom Gericht ursprünglich vorgeschlagenen 60 000 Euro bleiben.
Ekkehard Müller-Jentsch

Familiendrama Ein kürzlich vor dem BGH beendeter Streit über die Wirksamkeit einer Patientenverfügung legt nahe, dass viele Dokumente überarbeitet werden sollten. Was jetzt zu tun ist

D ie Patientin war sich in gesunden Zeiten völlig sicher, dass sie für den Ernstfall vorgesorgt hatte: »So etwas kann mir nicht passieren«, sagte sie mit Blick auf zwei Wachkoma-Fälle im nahen Umfeld, »schließlich habe ich ja eine Patientenverfügung.«
1998 hatte sie das Dokument aufgesetzt, in dem sie unter anderem klarstellte, dass sie für den Fall, dass »keine Aussicht auf Wiedererlangung des Bewusstseins« bestehe, keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr wünschte. Nur Schmerzen und Angst sollten dann noch medikamentös gelindert werden.
Tatsächlich wurden ihre schlimmsten Ahnungen wahr: 2008 erlitt die damals 68-Jährige einen schweren Schlaganfall, kurze Zeit später fiel sie nach -einem Herz-Kreislauf-Stillstand in ein dauerhaftes Wachkoma und wurde seither über eine PEG-Sonde, einen Schlauch durch die Bauchdecke in den Magen, künstlich ernährt. Im vergangenen November entschied abschließend der Bundesgerichtshof, dass ihre Patientenverfügung umgesetzt werden muss. Die Frau durfte nun endlich sterben.

Festlegungen sind bindend

Seit 2009 gilt der Grundsatz, dass Patientenverfügungen für Ärzte und Betreuer verbindlich sind – sie müssen umgesetzt werden, auch durch die sogenannte passive Sterbehilfe, bei der medizinische Behandlungen unterlassen oder abgebrochen werden. Im Fall der Wachkoma-Patientin kamen aber einige Umstände hinzu, die letztlich doch dafür sorgten, dass die Patientin länger am Leben gehalten wurde, als sie es ursprünglich -gewünscht hatte. Denn die Patientenverfügung aus dem Jahr 1998 untersagte – im Gegensatz zu den -inzwischen üblichen Mustern – nicht konkret die künstliche Ernährung und Flüssigkeits-zufuhr, sondern es war nur von »lebensverlängernden Maßnahmen« die Rede, die unterbleiben sollten. Außerdem enthielt die Verfügung den Passus »Aktive Sterbehilfe lehne ich ab«, der zumindest beim ebenfalls tief katholisch geprägten Ehemann den Schluss zuließ, dass nach dem Verständnis der katho-lischen Kirche im Jahr 1998 damit auch ein Abbruch der künstlichen Ernährung ausgeschlossen sei.
Nach §1904 des Bürgerlichen Gesetzbuchs bedürfen Entscheidungen, die die Gefahr einschließen, dass der Patient stirbt, einer Einwilligung des Betreuungsgerichts, sofern die Patientenverfügung nicht unzweifelhafte Festlegungen enthält. Dies führte hier zu fast endlosen Verzögerungen. Denn während der ursprünglich zur Durchsetzung der Patientenverfügung bevollmächtigte Sohn seit 2012 den Abbruch der Sondenernährung forderte, wehrte sich der ebenfalls als -alleinvertretungsberechtigter Betreuer eingesetzte Ehemann der Patientin vehement dagegen. Er fürchtete, dass seine Frau, die er selbst pflegte, durch die Einstellung der Ernährung leiden könnte.

Nachdem zwei Instanzen die Einstellung der Sondenernährung per Beschluss untersagt hatten, entschied der Bundesgerichtshof im Februar 2017, dass die -Gerichte eine Patientenverfügung primär nach ihrem schriftlich niedergelegten -Inhalt auszulegen haben und sich nicht in Erwägungen über das Wertesystem der betroffenen Person verlieren dürfen (Az. XII ZB 604/15). Sofern eine Patienten-verfügung hinreichend konkret den Willen des Patienten zum Ausdruck bringt, müssen die zur Genehmigung angerufenen Betreuungsgerichte ein sogenanntes Negativattest erteilen. Das bedeutet, dass eine gerichtliche Zustimmung nicht nötig ist und der Betreuer den Willen des Patien-ten allein zur Geltung bringen kann.

BGH-Senat gibt klare Linie vor

Im Streit um das Schicksal der Patientin musste nun aber geklärt werden, ob die Patientin noch eine Chance hat, ins Bewusstsein zurückzukehren. Nachdem der Gutachter dies eindeutig verneinte, erteilte das Landgericht das Negativattest – -allerdings gelangte die Sache wegen einer Beschwerde des Ehemanns noch einmal zum BGH. Dort wurde das Urteil des Landgerichts vollumfänglich bestätigt: Soweit eine wirksame Patientenverfügung vorliegt, sind die Gerichte nicht zur Genehmi-gung des Abbruchs der lebenserhaltenden Maßnahmen berufen, sondern haben die eigene Entscheidung der Betroffenen zu akzeptieren und ein Negativattest zu erteilen (Az. XII ZB 107/18).

Dass der Ordnungsruf des XII. Senats alle Unklarheiten beseitigt, ist angesichts der vielen Textmuster, die in den vergangenen dreißig Jahren kursierten, keineswegs zu erwarten – denn die Verantwortung liegt bei denen, die ein solches Dokument errichten.

Rechtsanwältin Tanja Unger aus der u. a. auf Patientenverfügungen spezialisierten Kanzlei Putz, Sessel, Steldinger (www.putz-medizinrecht.de) rät vor dem Hintergrund dieses tragisch anmutenden Rechtsstreits dazu, sich vor dem Verfassen einer Patientenverfügung vor Augen zu führen, um was es im Grundsatz geht: »Der Zweck einer Patientenverfügung ist, in bestimmten Behandlungssituationen bestimmte lebensverlängernde Maßnahmen, wie zum Beispiel eine künstliche Ernährung, zu verbieten. Dabei muss man die einzelnen Maßnahmen konkret benennen.« Durch die Verwendung eines aktuellen, von Experten verfassten Formulars könne man sicher sein, dass die Wünsche dann auch von Ärzten und Juristen anerkannt werden. »Der Verweis des Bundesgerichtshofs auf das Negativattest bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass Betreuern und Ärzten der Weg zum Gericht versperrt wäre«, betont Anwältin Unger. »Wenn es Zweifel über Anordnungen einer Patientenverfügung gibt, können Beteiligte das Gericht immer anrufen.«

Angesichts der komplexen Materie sei es auch nicht sinnvoll, eine Patientenverfügung lange Jahre im Schrank liegen zu lassen: »Durch die Rechtssprechung, aber auch durch medizinische Entwicklungen ergeben sich immer wieder neue Aspekte, die ein Nachbessern in der Formulierung der Textmuster erforderlich machen. Oft sind das Nuancen, aber sie sind eben wichtig, um Unstimmigkeiten zu vermeiden«, erläutert Tanja Unger. Daher solle man sie wenigstens alle zwei Jahre überprüfen und neu unterschreiben, nötigenfalls aber auch die Formulierungen präzisieren. Rechtsanwältin Unger verweist in diesem Kontext auf die Patientenverfügung des bayerischen Justizministeriums, die von einem Gremium aus Juristen und Medizinern laufend aktualisiert wird und als Broschüre mit umfangreichen Erläuterungen auch gratis erhältlich ist.

Die bayerische Broschüre »Vorsorge für Unfall, Krankheit, Alter« ist als Download gratis über www.bestellen.bayern.de unter dem Menüpunkt »Justiz« erhältlich oder kann gedruckt im Buchhandel unter der ISBN-Nummer 978-3-406-71787-1 zum Preis von 5,50 Euro bestellt werden.

Ein Hausarzt wird verklagt, weil er einen Schwerstkranken zu lange am Leben hielt: Das Verfahren könnte den Alltag in deutschen Pflegeheimen verändern

Im Inneren eines filigranen Baus des bekannten Architekten Sep Ruf tagt die Arzthaftungskammer des Landgerichts München I. Der Vorsitzende Richter lässt die Vorhänge schließen, das muntere Licht des bayerischen Föhns wirkt wie ein Hohn angesichts der Leides jenes verstorbenen alten Mannes, dessen Schicksal hier verhandelt wird. Die Düsternis des Treppenhauses, in dem sich die Prozessbeteiligten in der Pause treffen, passt da besser. Alle beginnen gleichzeitig zu reden. »Ich lag auch schon mal im Koma«, mischt sich ein älterer Zuschauer ein, »was, wenn die Ärzte die Apparate damals abgestellt hätten?« ungeheuerliche Vorstellung – er wäre heute nicht mehr da. Auch der Beklagte diskutiert mit. Er ist Hausarzt in einem Münchner Vorort. Ihm wird vorgeworfen, einen schwer dementen Mann mit einer Magensonde am Leben erhalten und dadurch – in den letzten zwei Jahren – dessen Leiden über Gebühr verlängert zu haben. »Dann sagen Sie mir doch, wann der richtige Zeitpunkt ist, abzuschalten!«, faucht er. Sein Schnurrbart bebt vor Wut. Kläger ist der Sohn des Toten. Er fordert als Rechtsnachfolger und Erbe Schadensersatz für die aufgelaufenen Kosten der jahrelangen Behandlung und Schmerzensgeld für das in seinen Augen unerträgliche Lebensende des Vaters. Der Streitwert liegt bei 150 000 Euro, doch es geht um weit mehr: für Ärzte und Pfleger, falls sich durchsetzt, dass sie künftig mit Zivilklagen überzogen werden können, wenn sie den Sterbeprozess verzögern; für Patienten, wenn hier neue Standards für die letzte Lebensphase definiert werden sollten; für die Gesellschaft, weil hier der verdrängten Frage auf den Grund gegangen wird, wann der Tod einem qualvollen Siechtum, im Juristendeutsch wrongful life, vorzuziehen ist. Verhandelt wird dies alles am Schicksal des Heinrich S., das gewiss nicht repräsentativ, aber im Kern doch verallgemeinerbar ist: S., Jahrgang 1929, erkrankt im Alter von 66 Jahren an einer schweren Form von Demenz. Seine geschiedene Frau hat sich schon länger von ihm zurückgezogen, und auch der klagende Sohn, Heinz S., pflegt kein inniges Verhältnis zu dem ehemaligen Alkoholiker. Heute deutet der 57-jährige Sohn die schwierige Beziehung zum Vater so: » Er war durch seine Krankheit in der Persönlichkeit verändert.«

Die künstliche Ernährung durch Magensonden ist ein Milliardengeschäft

Am Tag, als der Vater seinen Dienst als Briefträger quittiert und in Ruhestand geht, zieht der Sohn um – von München nach North Carolina zu seiner neuen Liebe. Bei einem Besuch in der Heimat trifft er den Vater derart verwahrlost an, dass er ihn in einem Pflegeheim unterbringt. Vater S. bekommt einen gerichtlich bestellten Betreuer, der die Sorge für den Dementen übernehmen soll. Ein verwirrter Postbote, eine entfremdete Familie, eine anonyme Großstadt – die Geschichte könnte vom Münchner Schriftsteller Friedrich Ani stammen. Was für das ausufernde Leid des alten Mannes aber letztlich den Ausschlag gibt: Er hat keine Patientenverfügung und kein verlässliches Umfeld, das ihm beisteht. Wie so viele andere auch. Zwar interessieren sich die Deutschen für das Thema Patientenverfügung, doch nur etwa die Hälfte der über Sechzigjährigen hat eine. Angesichts hoher Scheidungsraten und verbreiteter Kinderlosigkeit könnten viele Deutsche irgendwann in die Lage des einsamen Postmanns geraten. Vor seiner Erkrankung ging Heinrich S. gern unter Leute und fotografierte viel. Die Art und Weise, wie er später sterben muss, ist nicht bloß trostlos, sie ist in den Worten des Pioniers der Palliativmedizin, Gian Domenico Borasio, »grausam«. Borasio beobachtet wie viele seiner Kollegen den Zivilprozess mit Spannung. Der wirft nämlich Fragen auf, die Ärzte, Pfleger und Patienten gleichermaßen tangieren. Die Höllenfahrt des S. im Zeitraffer: 1996 Demenzdiagnose, Depression, Inkontinenz und chronische Schmerzen. Seit 2003 verstummt, festgebunden, er will nicht essen, ist ängstlich und aufgeregt. 2006: er kann seine Lage nicht mehr erkennen. Die Muskulatur ist so angespannt, dass er nicht mehr »fixiert« werden muss. September 2006: Krankenhaus wegen Fieberschüben, rasselnder Lunge, Austrocknung. Da er nicht mehr isst, wird eine Ernährungssonde gelegt. Vier Tage später: Lungenentzündung. Der Patient ist mangelernährt, ausgezehrt, geistig weggetreten, ohne Muskelreflexe. Deshalb wird eine dauerhafte PEG-Magensonde verordnet. Die PEG-Sonde ist ein Schlauch, der durch die Bauchdecke in den Magen führt. Sie ermöglicht etwa Frühgeborenen, Intensivpatienten oder Menschen mit Schlundtumoren das Weiterleben. Sie wird aber auch vielen Pflegebedürftigen zwangsverordnet, die willentlich oder aus Versehen nicht mehr essen, bis zu hunderttausendmal im Jahr. Februar 2007: S. werden alle Zähne gezogen. Juni 2007: Lungenentzündung und Schluckbeschwerden. 2008: Heinrich S. liegt mit geöffnetem Mund im Liegerollstuhl. Kopf, Arme, Beine lassen sich auch von Dritten nicht mehr bewegen. Juni 2010: Krankenhaus. Die Lunge rasselt. Mehrere nekrotische Druckgeschwüre. Wird S. angesprochen, jammert er. Oktober 2011: Krankenhaus. Fieber, brodelnde Atmung. Heinrich S. stirbt am 19. Oktober 2011 im Alter von 72 Jahren – endlich, möchte man sagen. Sechs Jahre lang hing er am Schlauch. Fragen, ob ihm das recht sei, konnte man ihn nicht. Aber es gibt Gründe, anzunehmen, dass er es nicht gewollt hätte. Die PEG-Sonde löst Unruhezustände aus, verhindert aber nicht die gefürchteten Lungenentzündungen bei Bettlägerigen, nicht das Wundliegen, nicht einmal die Mangelernährung. Heinrich S. war trotz der Magensonde unterernährt und ausgetrocknet. Entsprechend schlecht ist der Ruf dieser Maßnahme. Der Studie eines amerikanischen Geriaters zufolge wollte nur ein Drittel der von ihm befragten Pflegeheimbewohner im Fall der Unfähigkeit zur Nahrungsaufnahme über eine Sonde ernährt werden. Zwei Drittel ziehen es vor, friedlich zu sterben
Trotzdem ist die Sonde Alltag in Pflegeheimen. Das hat Gründe. Ernährung ist Leben, die Vorstellung, jemanden verhungern zu lassen, ist grausam. Ernährung ist aber auch Gefühl. Essen etabliert eine tiefe Bindung, zunächst durch die Nabelschnur, dann an der Mutterbrust, dann an der Familientafel oder am Stammtisch. Claus Fussek kämpft seit 35 Jahren für die Würde in Pflegeheimen. Der 62-jährige Sozialpädagoge lässt, obwohl sich sein Schreibtisch unter den Akten über erbarmungswürdige Sondenträger biegt, keinen Zweifel aufkommen: »Die Drohung von Ärzten und Pflegern: ›Sie wollen Ihren Vater doch nicht verhungern lassen‹, ist ein schweres Geschütz.« So geschah es laut Heinz S. auch im Fall seines Vaters: Der Sohn drängte, als ihm der Zustand des Multimorbiden schrecklich erschien, auf das Entfernen der Sonde. Doch er konnte sich mit dem Rechtsbetreuer des Vaters nicht einigen und geriet in einen Rechtsstreit. Das Problem: Der Sterbeprozess des Vaters hatte noch nicht begonnen, der Patient war, so drückt es der Gutachter aus, »ein bedauernswerter Mensch, aber internistisch gesehen gesund«. Mediziner und Pfleger haben das Tun im Blick, nicht das Lassen. Außerdem müssen sie in Zeiten, da Kliniken und Heime um Patienten konkurrieren, auch Betten belegen. Claus Fussek, unermüdlicher Rufer in der deutschen Pflegewüste, weist darauf hin, dass Sonden ein Milliardengeschäft seien. In vielen Fällen dienten sie dem Interesse der Pfleger und nicht dem der Gepflegten. Bei der straffen Taktung in vielen Heimen sei eben nicht genügend Zeit, einen dementen Menschen in Ruhe zu füttern. Dem Rechtsanwalt Wolfgang Putz, der den klagenden Sohn vertritt, geht es in diesem Prozess aber nicht um die Verbesserung von Pflege und Palliativbehandlung, er zielt auf das Recht auf einen friedlichen Tod. Schon 2010 hat Putz eine zukunftsweisende Entscheidung des Bundesgerichtshofs erwirkt: Weil ein Pflegeheim eine Wachkomapatientin fünf Jahre lang gegen den Willen der Angehörigen per Sonde ernährte, hatte Putz der
Tochter der 77-Jährigen geraten, den Schlauch durchzuschneiden. Dafür verurteilte das Landgericht Fulda den Rechtsanwalt zu neun Monaten auf Bewährung und 20 000 Euro Strafe. Der Staatsanwalt hielt ihm vor, sich zum »Herrn über Leben und Tod« aufzuspielen. Doch der BGH sah es anders und sprach Putz frei: Wer mit aller Medizin für das Leben kämpfe, auch wenn der Kampf aussichtslos sei und das Patientenwohl dem entgegenstehe, mache sich ebenfalls zum Herrn über Leben und Tod. Den eingeschlagenen Weg will Putz weiterbeschreiten. »Ärzte dürfen sich nicht über den Willen des Patienten hinwegsetzen, auch nicht, wenn sich Angehörige für lebensverlängernde Maßnahmen einsetzen – dies wurde mehrfach gerichtlich bestätigt. Die Frage ist nun, welche Umstände den Abbruch einer Behandlung unabhängig vom Patientenwillen gebieten.«
Eine medizinische Therapie muss auf zwei Säulen ruhen: Sie muss fachlich sinnvoll sein (Ärzte sprechen von »indizierter« Therapie) und dem Patientenwillen entsprechen. Auch der Gerichtsgutachter bestätigt in München, der Krankheitsverlauf des Heinrich S. sei »infaust« gewesen, also ohne jede Aussicht auf Heilung. Die Magensonde sei daher – zumindest in den letzten 18 Monaten – nicht mehr indiziert gewesen. In diesem Punkt werden sich die beiden Parteien einig. Aber hätte der Arzt die Sonde deshalb entfernen müssen? Die entscheidende Frage ist die nach dem Patientenwillen. Hat ein Patient keine Verfügung erlassen, muss mit seinen Fürsprechern, der Familie oder dem Bevollmächtigten, abgewogen werden, wie er bei seriöser Aufklärung wohl selbst entschieden hätte. Und an diesem Punkt scheiden sich die Geister. »Wir wünschen uns so etwas alle nicht«, gesteht der Münchner Vorsitzende Richter Peter Lemmers dem Kläger zu, doch könne eben niemand die Wahrnehmung eines Patienten kennen und wissen, was Heinrich S. wirklich gewollt hätte. Leiden sei subjektiv. Der Gerichtsgutachter sieht das genauso: Viele Patienten zeigten trotz extremen Leidens auch extremen Lebenswillen. Der Kläger hält dagegen. Eine Magensonde gegen den Patientenwillen zu legen sei Körperverletzung. Sie verstoße gegen das Persönlichkeitsrecht, die Selbstbestimmung und die Integrität des Hilflosen. Wo kein Wille ermittelbar ist, muss man sich an die Wertvorstellungen einer Gesellschaft halten. »Ungefähr seit der Jahrtausendwende wird die früher allgemein akzeptierte gesellschaftliche Grundhaltung, dass Leben um jeden Preis erhalten werden müsse, in Gerichtsurteilen immer wieder eingeschränkt«, sagt der Fachmann Borasio. Ein Leben muss würdig und friedlich enden dürfen. Neben entsprechenden Gerichtsurteilen weise noch etwas auf einen Wertewandel hin: Die allermeisten Patientenverfügungen treffen »negative« Regelungen. Sie halten fest, welche Interventionen sich die Menschen am Ende des Lebens nicht wünschen. Die meisten betrachten also nicht nur das Leben an sich, sondern auch die Qualität des Lebens als Wert. Deshalb hätte sich wohl auch Heinrich S. gegen eine Dauerernährung entschieden.

Lebensverlängerung um jeden Preis oder »liebevolles Unterlassen«?

Doch schleicht sich nicht durch die Hintertür die Frage ein, welches Leben lebenswert ist? Bevor das böse Wort » Euthanasie« fällt, erklärt der Palliativmediziner, in seiner Disziplin sei es Standard, den Menschen Leiden im ganzheitlichen Sinne zu er – sparen, nicht nur Schmerzen, sondern »total pain«. Der Begriff geht auf die Begründerin der Palliativmedizin, Cicely Saunders, zurück und umfasst die verschiedenen Nöte eines Sterbenden: Einsamkeit, Verstummen, Sinnleere, existenzielle Angst. All diese Aspekte seien zu berücksichtigen. Kann das ein Hausarzt? In dieser Frage lassen sich die Positionen nicht versöhnen. Richter Lemmers und der Gerichtsgutachter bezweifeln, dass der behandelnde Hausarzt allein habe entscheiden können (oder dürfen), wann es genug war für Heinrich S. Auf der anderen Seite stehen die klagende Partei, aber auch Palliativmediziner wie Borasio und Pflegeexperten wie Fussek. Früher sprach man in diesem Zusammenhang von »passiver Sterbehilfe«. Der BGH selbst hat den Begriff inzwischen durch den ebenfalls negativ besetzten des »Behandlungsabbruchs« ersetzt. »Dabei bricht ein Arzt nie die Behandlung ab«, sagt Borasio. »Aber für jeden Patienten und auch für uns selbst kommt irgendwann im Leben ein Punkt, an dem das Therapieziel der Lebensverlängerung keinen Sinn mehr macht. Die logische Folge ist eine Änderung des Therapieziels zugunsten der Lebensqualität bis zum Ende, also eine palliativmedizinische Haltung. Diese kann sehr wohl aktive und sogar invasive Eingriffe zur Folge haben, sofern sie zum Erreichen des Therapieziels – Lebensqualität und Leidenslinderung – notwendig sind. Sie sehen, wir sind hier meilenweit von jeder Euthanasiedebatte entfernt.« Borasio nennt es »liebevolles Unterlassen«. Auch das erfordere Mut. Der Vorsitzende Richter Michael Lemmers sucht den Kompromiss. Seine Kammer weist den Anspruch des Klägers auf Schmerzensgeld und Haftung ab ( a Z 9 O 5246/14). Zwar habe für die künstliche Ernährung keine Indikation mehr vorgelegen, zwar habe der Arzt die Angehörigen über die Verlängerung des Leidens zu informieren und deren Einschätzung des Krankenwillens einzuholen – dass der Hausarzt dies versäumte, sei ein ärztlicher Behandlungsfehler –, aber der Kläger habe nicht nachweisen können, dass sich sein Vater gegen die Sondenernährung entschieden hätte. Damit öffnet sich die Tür für künftige Haftungsklagen bei unterlassener Aufklärung über sinnloses Leid. Rechtsanwalt Putz betrachtet das Urteil als »Meilenstein«, habe das Gericht doch erstmals in der deutschen Medizinrechtsgeschichte die künstliche Lebensverlängerung per Magensonde bei Schwerstkranken ohne Therapieaussichten als nicht indiziert beurteilt und gefordert, dass über die Magensonde laufend neu entschieden werden müsse. Der Kläger will nun versuchen, in der nächsten Instanz vor dem Bundesgerichtshof diese Tür noch ein Stück weiter aufzustoßen.

„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ (Matthäus 4,4) – auf diesem biblischen Hinweis, dass wir nicht von Nahrung allein lebten, bezog sich Frank Kittelberger, Studienleiter für Ethik in Medizin und Gesundheitswesen, Pastoralpsychologie und Spiritual Care der Evangelischen Akademie Tutzing, bei der Eröffnung des Medizin-Theologie-Symposiums „Hungern bis der Tod kommt?“, das vom 27. bis 29. Oktober 2017 in der Evangelischen Akademie am Starnberger See stattfand. Das könnte im Umkehrschluss heißen, so Kittelberger, „dass wir auch nicht allein am Mangel von Nahrung sterben“. Um die Implikationen einer solchen Schlussfolgerung drehten sich letztlich die Diskussionen und Positionen in der Debatte um das Sterbefasten bzw. den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF). Besonders lebhaft sei diese Diskussion, weil sie medizinisch-pflegerische und sozial-psychologische Fragen ebenso berühre, wie juristische, sozialpolitische und moralische Positionen.

Perspektivenwechsel
Dr. Max Kaplan, Präsident der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK), spannte in seinem Impulsreferat „Ärztliche Sterbebegleitung – Rolle, Aufgaben und ethische Grenzen für den Arzt“ den Bogen von den Vorgaben der Berufsordnung bis hin zu exemplarischen Kasuistiken aus der Patientenversorgung. Kaplan stellte fest, dass das Thema Sterben und Tod mittlerweile in der Gesellschaft angekommen sei. Auch der Gesetzgeber habe reagiert, mit dem dritten Betreuungsrechtsänderungsgesetz 2009 (Patientenverfügung), dem Hospiz- und Palliativgesetz 2015 und dem Gesetz zur geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung § 217 Strafgesetzbuch (StGB). Ganz aktuell hat das Bundesverwaltungsgericht mit seinem Urteil vom März 2017 erneut zur Diskussion beigetragen. Eine Studie zeige, dass beim Sterben „Wirklichkeit und Wunsch auseinander klaffen“, denn die Mehrheit der Menschen in Deutschland (60 Prozent) wollten zu Hause sterben und nicht im Krankenhaus oder im Pflegeheim. Tatsache sei jedoch, dass 46 Prozent im Krankenhaus und 21 Prozent im Pflegeheim sterben. „Bei vielen Menschen geht der Wunsch nach dem Wo und Wie des Sterbens nicht in Erfüllung“, so Kaplan. Der Präsident erläuterte die Verantwortung des Arztes, der sich hierbei an Regeln und Grundsätze zu halten und dabei auf die Patientenautonomie zu achten habe. „Wie weit geht diese Autonomie und befindet sich nicht auch die Gesellschaft in einem Spannungsfeld zwischen Fürsorge und Patientenautonomie“, fragte Kaplan. Der Präsident verwies auf den „Hippokratischen Eid“, welcher als Genfer Gelöbnis, soeben durch die Generalversammlung des Weltärztebundes (World Medical Association – WMA) überarbeitet wurde mit stärkerer Berücksichtigung der Patientenautonomie, auf die Muster-Berufsordnung und die Berufsordnung für die Ärzte Bayerns, auf die Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung sowie auf die Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland (Leitsätze). „Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Sterben unter würdigen Bedingungen“, zitierte der Präsident, woraus sich gesellschaftspolitische Herausforderungen – Ethik, Recht und öffentliche Kommunikation, Bedürfnisse der Sterbenden – Anforderungen an die Versorgungsstrukturen, Anforderungen an die Aus-, Weiter- und Fortbildung von Ärzten und Pflegenden, Entwicklungsperspektiven und Forschung sowie eine europäische und internationale Dimension ergäben. Kaplan machte deutlich, dass nach den im Jahr 2011 überarbeiteten Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung, die ärztliche Verpflichtung zur Lebenserhaltung nicht unter allen Umständen bestehe. Unter dem Aspekt Perspektivenwechsel ging Kaplan auf Situationen ein, in denen sonst angemessene Diagnostik und Therapieverfahren nicht mehr angezeigt seien. Dann trete eine palliativmedizinische Versorgung in den Vordergrund. Es gelte eine Basisbetreuung sicherzustellen, wobei Art und Ausmaß einer Behandlung vom Arzt zu verantworten seien. Unter „Hilfe beim Sterben, nicht Hilfe zum Sterben“ subsumierte Kaplan: Ein offensichtlicher Sterbevorgang sollte nicht durch lebenserhaltende Therapien künstlich in die Länge gezogen werden. Die Tötung des Patienten hingegen sei strafbar, auch wenn sie auf Verlangen des Patienten erfolge. Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung sei keine ärztliche Aufgabe. Besonderes Augenmerk legte der Präsident auf die Patientenverfügung und zeigte auf, was sie beinhalten sollte, beispielsweise für welche Situationen diese Verfügung gelte, welche Therapien der Patient verlange und welche er ablehne und ob ein Organspendeausweis vorliege. Schließlich sprach Kaplan Sterbebegleitung aus hausärztlicher Sicht an. Anhand von konkreten Kasuistiken zeigte Kaplan, der selbst 30 Jahre als Landarzt niedergelassen war, sowohl den „Regelfall“ als auch den „besonderen Fall“, wie den krebskranken Patienten oder das „Sterbefasten“ auf.

Sterbefasten
„Sterbefasten aus rechtlicher Sicht“ titelte der Vortrag von Wolfgang Putz, Rechtsanwalt und Lehrbeauftragter an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Putz machte dem Auditorium die Bedeutung des neuen § 217 StGB deutlich: Geschäftsmäßige Förderung liege vor, sobald ein Arzt Beistand oder Beratung gewähre oder dies nur verspreche. Sterbefasten sei Suizid – der ärztliche Beistand dazu unterliege § 217. Er gliederte die „Beteiligung am Suizid“ in drei Phasen aus strafrechtlicher Sicht: „1. Beihilfe zur Vorbereitung der Selbsttötung. 2. Nicht hindern (Selbsttötung sei die Tötung des Suizidenten durch den Suizidenten) und 3. Nicht retten.“ Interessant war die Frage: „Ist das Aufhören zu essen und zu trinken eine ,Selbsttötung‘ im Sinn des § 217 StGB?“. Der Münchner Rechtsanwalt ging zuerst auf das natürliche Nachlassen von Hunger, Durst und Aufnahme von Flüssigkeit und Nahrung infolge der Erkrankung (schon begrifflich kein „Fasten“) ein und sagte wörtlich: „Das ist keine Selbsttötung im Sinne des § 217 StGB.“ Gezieltes Handeln gegen das Leben, um unabhängig von der Erkrankung früher und ohne Erleben der Spätsymptome der Erkrankung zu sterben (FVNF/“Sterbefasten“) sei dagegen eine Selbsttötung im Sinne des § 217 StGB. Es gebe viele Fallgestaltungen, aber auch Probleme der Abgrenzung bezüglich des Bestimmtheitsgebots. Eine freiverantwortliche Selbsttötung sei ein Grundrecht, deshalb sei der § 217 StGB letztlich ein Verstoß gegen das Grundgesetz. Die aktuelle Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, nach der ein unheilbar Kranker in extremen Ausnahmefällen Anspruch auf eine Substanz zur Selbsttötung erhalten könne, sieht Putz als unvereinbar mit § 217 StGB und damit als „Stichelei gegenüber dem Gesetzgeber“. Der Arzt habe keine „Garantenpflicht für das Leben, sondern für den Patientenwillen“ und eine illegale Suizidhilfe sei „beim Arzt immer Tötung durch Unterlassung, nicht nur unterlassene Hilfeleistung“, so Putz‘ Darstellung der Rechtslage. Der zweite Absatz des § 217 StGB stellt Angehörige und nahestehende Personen straffrei, wenn sie zum Beispiel den Suizidenten zum Sterbehelfer in die Schweiz fahren. Hilft der Arzt hingegen unmittelbar einem Patienten in Deutschland beim Suizid oder Sterbefasten, macht er sich grundsätzlich nach § 217 StGB strafbar. Darüber diskutierten über 20 Referentinnen und Referenten aus Politik, Recht, Kirche und dem Gesundheitswesen mit Betroffenen, Begleiterinnen und Begleitern sowie Angehörigen und Interessierten. Ein Indiz für das wachsame Interesse an diesem heiklen Thema zeigte die Teilnehmerzahl, war doch das Symposium mit über 180 Teilnehmerinnen und Teilnehmern ausgebucht. Das ganze Programm findet sich online unter www.ev-akademie-tutzing.de/ veranstaltungsarchiv
Dagmar Nedbal (BLÄK)

Juristische Forderungen wegen Fehlern betreffen Hausärzte eher selten. Aber wenn, dann können sie sehr belastend sein. Drei Fachanwälte, die meist Patienten vertreten, erläutern ihre Sicht der Dinge.
Von Christina Bauer

München. Schäden durch fehlerhafte Behandlung sind Patienten ein Graus. Ärzten allerdings auch, und dies umso mehr, wenn teure Klagen drohen. Die gute Nachricht für Hausärzte: Dass jemand von ihnen Schadenersatz oder Schmerzensgeld fordert, ist die absolute Ausnahme. Laut Behandlungsfehlerstatistik bearbeiteten Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Ärztekammern im Jahr 2017 im niedergelassenen Bereich 2054 Fälle, davon betraf nur jeder zehnte eine Hausarztpraxis. „Eine hausärztliche Haftung kommt relativ selten vor“, bestätigt Alexander Sessel im Gespräch mit der „Ärzte Zeitung“. Der Anwalt für Medizinrecht von der Münchner Kanzlei Putz, Sessel, Steldinger GbR arbeitet seit Jahren im Bereich Arzthaftungs- recht. Stelle ein Patient gegenüber niedergelassenen Ärzten Forderungen, dann meist an einen Facharzt. Die meisten Fälle betreffen Kliniken, und dort vor allem die Chirurgie. Ganz gingen Streitigkeiten aber auch an Hausärzten nicht vorbei. „Es gibt Fälle, in denen Hausärzte eine schwere Erkrankung nicht erkennen“, so Sessel. In Ausnahmefällen würden trotz klarer Hinweise etwa Herzinfarkte oder Schlaganfälle nicht erkannt. Statt den Patienten sofort an Notarzt oder Klinik zu überweisen, behandelt ein Hausarzt dann womöglich eine vermutete, harmlose Malaise wie Grippe oder Altersbeschwerden – mit möglicherweise fatalen Folgen. Sessel erinnert sich an den Fall einer 69-Jährigen aus dem Jahr 2014. Als deren Mann sie bewegungsunfähig zu Hause gefunden habe, habe er den Hausarzt gerufen. Statt sofort einen Krankenwagen zu schicken, habe der die beiden in die Praxis bestellt. Selbst nach EKG und Blutdruckmessung sei der Schlaganfall unerkannt geblieben. Die Patientin, eine Hypertonikerin, habe einen Blutdrucksenker bekommen. Erst am nächsten Morgen sei sie, in verschlimmertem Zustand, in eine Klinik gekommen, seitdem sei sie pflegebedürftig.

Vorsicht bei Umkehr der Beweislast
Da weder Arzt noch Versicherung einsichtig gewesen seien, habe der Fall vor Gericht verhandelt werden müssen. Der Gerichtsgutachter habe einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden nicht zweifelsfrei feststellen können. Der schwer kranken Frau seien dann in einem Vergleich 12 000 Euro zugesprochen worden. Die angesichts der schlimmen Folgen gering anmutende Summe dürfte damit zusammenhängen, dass der Behandlungsfehler als leicht bewertet wurde. „Die Beweislast liegt beim Patienten“, stellt Sessels Kollegin Beate Steldinger im Gespräch mit der ,Ärzte Zeitung“ fest. Nur bei einem schweren Behandlungsfehler kehrt sich die Beweislast um. Dann muss der Arzt beweisen, dass es keinen Ursachenzusammenhang zwischen Fehler und Schaden gibt. Das Beispiel zeigt, wie hoch die Hürden für Patienten oft sind. Gerichtsverhandlungen bilden dabei nur einen relativ kleinen Teil des Geschehens ab. „Wir beenden über 90 Prozent der Fälle außergerichtlich“, so Steldinger. Das bedeute oft, dass es eine Einigung mit der Haftpflichtversicherung gebe. Es könne aber auch sein, dass das Geschehen am Ende nicht als Fehler gewertet oder kein ursächlicher Zusammenhang mit dem Schaden festgestellt werde.

Diagnostik als Fehlerquelle
Fachanwalt für Medizinrecht Thomas Hofknecht von der Landshuter Dr. Jockisch Rechtsanwaltsgesellschaft sieht ebenfalls besonders die Diagnostik als Fehlerquelle. Er vertritt derzeit unter anderem einen Mandanten, bei dem in der Hausarztpraxis eine Malariaerkrankung nicht erkannt wurde. Der Mann musste am Ende mehrere Tage auf die Intensivstation. „Grundsätzlich ist die Frage, ob etwas ein Behandlungsfehler ist, sehr vom Sachverständigen abhängig“, so Hofknecht zur „Ärzte Zeitung“. Dessen Einschätzung folge das Gericht fast immer, nicht zuletzt würden manche Gutachten auseinandergenommen. Ärzten, die irgendwann mit juristischen Forderungen konfrontiert sind, rät Sessel: „Der Arzt muss sofort seine Haftpflichtversicherung informieren, um seinen Versicherungsschutz nicht zu gefährden.“ Die übernehme alles Weitere. Patienten zu sagen, dass ein Fehler gemacht worden sein könnte, ändere am Versicherungsschutz aber nichts.